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Erschüttert, aber nicht besiegt

Gottfried Kräuchi (links) mit Schülerinnen und Schülern des Collège Suisse in Jacmel. Erwin Dettling

Auch zweieinhalb Jahre danach hat Haiti das verheerende Erdbeben von 2010 noch nicht überwunden. Der Schweizer Gottfried Kräuchi trotzt allen Erschütterungen und sorgt dafür, dass das Collège Suisse in Jacmel als sein Lebenswerk weiterlebt.

Wenn der Gründer der Primar- und Sekundarschule erzählt, blitzen Gottfried Kräuchis Augen auf. Der 78-Jährige sitzt im Foyer des Freien Gymnasium Bern, wo Gesangs- und Instrumentalschüler- und schülerinnen ein vom lokalen Kiwanis-Klub organisiertes Benefiz-Konzert zu Gunsten des Collège Suisse geben.

Das Collège Suisse mit seinen fast 800 Schülern ist auch heute noch dringend auf Hilfe von aussen angewiesen. Das Beben vom 12. Januar 2010 hatte im ganzen Land Hunderttausenden Menschen das Leben gekostet.

«Durch Spenden der Konzertbesucher und Beiträge des Kiwanis-Klubs sind mehr als 15’000 Franken zusammen gekommen», freut sich Gottfried Kräuchi gegenüber swissinfo.ch. Für fast noch nachhaltiger hält Kräuchi jedoch die Beziehungen und Kontakte, die er durch die insgesamt drei Berner Benefiz-Konzerte zugunsten seines Lebenswerks in Haiti habe knüpfen können.

Narben verheilen, Wunden bleiben 

Vieles hat sich in der Hafenstadt Jacmel, die rund drei Autostunden im Südosten von der Hauptstadt Port-au-Prince liegt, seit dem Beben verändert. Die Menschen tragen ihr Leid mit Fassung. Nach ihrem animistischen Glauben ist die Erde eine Trommel, die vibriert, faucht und sich zu einem Erdbeben aufbäumen kann. Die unsichtbaren Narben, die Angst in den Köpfen der Menschen, bleiben.

Allein in Jacmel stürzten sechs Schulen ein. Das Collège Suisse von Kräuchi kam mit Rissen in den Aussenmauern davon. Doch weder Schüler noch Lehrer wagten sich in den alten Schulbau zurück. Die Angst vor Nachbeben sass ihnen viele Monate im Nacken.  

 Die heilende Kraft des Vergessens 

«Die Menschen in Haiti haben ein kurzes Gedächtnis», sagt Kräuchi. «Das hat unter anderem mit den haitianischen Schulbüchern zu tun. Darin finden die Kinder kaum Berichte darüber, dass bereits vor 200 Jahren Cap Haitien von einem verheerenden Erbeben zerstört worden war.»

Der Blick in Haiti ist nach vorn gerichtet. Ein Team von Lehrerinnen und Lehrern, Direktoren, Eltern und Sympathisanten fanden nach dem Jahrhundertbeben rasch eine Zwischenlösung für das ramponierte Collège Suisse. Rund fünf Kilometer ausserhalb von Jacmel konnte die Schule von Bauern ein gut Quadratkilometer grosses Grundstück kaufen. Von einer lokalen Volkskasse (Caisse Espoir) wurden sie mit einem Kredit von 100’000 US-Dollar unterstützt, der bis 2016 zurückbezahlt werden muss. 

Les provisoires qui durent? 

Auf dem neuen, grosszügigen Schulareal mit Baumbestand entstanden mit einer kleinen Anstosshilfe der Direktion für Zusammenarbeit und Entwicklung des Bundes (Deza) erste provisorische Schulräume und ein Verwaltungsgebäude. «Wir mussten zuerst dafür sorgen, Bücher und Dokumente vor Wind, Wetter und Dieben zu schützen», sagt Kräuchi. Bald konnte der Unterricht in den vorläufigen und mit Plachen bedeckten Holzbauten beginnen.

Der Neustart auf dem weiten Schulareal hat dem Projekt Schub verliehen. In der Zwischenzeit verfügt das Collège über weiträumige Schulräume mit soliden Aussenwänden, deren Bau vom Hilfswerk Save The Children unterstützt wurde. Im Schichtbetrieb werden die Primar- und Sekundarschüler sowie Erwachsene, die den zweiten Bildungsweg absolvieren, unterrichtet. Wacklig bleibt die Strom- und Wasserversorgung. 

Es fehlt an Strom, Wasser und Sicherheit 

Gottfried Kräuchi, der krankheitshalber in der Schweiz weilt, steht in engen Kontakt mit der Schulleitung in Jacmel. Dringend seien Materialien nötig, um das grosse Areal einzuzäunen.

Kühe grasten auf dem Grund und ungebetene Gäste müssten ferngehalten werden, erzählt er. Weiter müsse eine Zufahrtstrasse und ein Busdienst vom Stadtzentrum zu Schule aufgebaut werden.

Kräuchi bleibt optimistisch, dass sein Werk, das er 1973 als 39-Jährige auf einer Weltreise initiiert hatte, auch in Zukunft bestehen bleiben wird. «Das Vergessen der sehr jungen Bevölkerung vor Ort hat auch Vorteile», meint Kräuchi.

Nach einer Schonzeit nach dem Erdbeben hätten die Menschen wieder Mut gefasst und seien auch wieder in das alte Collège in der Stadt Jacmel zurück gekehrt. Dort hat Gottfried Kräuchis Frau eine neue Primarschule und eine Alphabetisierungsklasse eingerichtet.

Ein Generationenprojekt 

Der Wiederaufbau im mausarmen Haiti lässt auch heute noch weitgehend auf sich warten. Es handelt sich wohl um ein Generationenprojekt. Beunruhigend findet Kräuchi, dass viele Menschen auch in Jacmel noch immer in Zelten hausten.

«Maître Geffroy», wie Gottfried Kräuchi in Haiti genannt wird, hat in Jacmel einen guten Ruf. Ehemalige Schüler sind Teil der Direktion des Instituts. Kräuchi bleibt rührig, auch wenn er aufgrund seiner schweren Krankheit kürzer treten muss.

Das Erdbeben hat seinem Lebenswerk eine neue Wendung gegeben. Das Collège Suisse wird in ein paar Jahren vermutlich grösser, solider und zukunftsträchtiger sein als je zuvor.

12 Lehrer unterrichten 320 Primarschüler. Es handelt sich um sozial benachteiligte Kinder, die in Haushalten wohlhabender Einwohner arbeiten.

25 Lehrer unterrichten 150 junge Erwachsene in Alphabetisierungskursen.

35 Lehrer unterrichten 310 Sekundarschüler bis zur haitianischen und französischen Matur.

Der Schulbetrieb ist selbsttragend.

Der damals 39-jährige Schweizer kommt 1973 im Rahmen einer Weltreise nach Haiti.

Er unterrichtet in Jacmel als Volontär auf Anfrage der Bevölkerung Mathematik. Dies war der Anfang seines jahrzehntelangen Einsatzes für das haitianische Schulwesen.

Unter den insgesamt 800 Sekundarschulen des Landes gehört das Collège Suisse

Gottfried Kräuchis zu den zehn besten.

Ein Jahr nach dem Erbeben übergab er die Administration seines Lebenswerks an seinen Sohn, Stephan Kräuchi.

Gottfried Kräuchi gründete den Trägerverein Collège Suisse Haiti (ACSH) mit Sitz in Fribourg. Dieser unterstützt die Schule in Notsituationen und bei grösseren Investitionen.

18 Schweizerschulen im Ausland vermitteln rund 6700 Kindern Unterricht nach schweizerischen Grundsätzen.

Für Schweizer Kinder sollen mit dem Besuch dieser Schulen eine Verbindung zur Schweiz behalten können.

Das Collège Suisse von Gottfried Kräuchi wird von der Eidgenossenschaft finanziell nicht unterstützt, weil es dort keine Schweizer Kinder hat.

«Wir erhalten von der offiziellen Schweiz kein Geld. Ich schätze aber die moralische Unterstützung, die uns Bern gewährt», sagt Kräuchi.

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