Haiti: Die NGO setzen die Massstäbe
Das Auftauchen der Nichtregierungs-Organisationen (NGO) nach dem Erdbeben führt dazu, dass sich der korrupte haitianische Staat auf allen Ebenen noch mehr zurückzieht. Dies hat grosse Auswirkungen auf die Mobilisierung der Gesellschaft, wie eine Reportage zeigt.
Zwei Autostunden von Grand-Goâve entfernt, am Ende einer chaotischen Strasse, die von ein paar Motorrädern und Maultieren benutzt wird, befindet sich das Ambulatorium Meyer. Schon in den frühen Morgenstunden ist es überbelegt.
Im Hof wehrt sich ein kleines Mädchen, das an Unterernährung leidet, dagegen, gewogen zu werden.
Vor dem Eingang verfolgen rund dreissig Patientinnen und Patienten aufmerksam den Ausführungen von Mitarbeitern von Terre des hommes über Cholera-Prävention.
Hier befindet sich das einzige medizinische Zentrum für die 10’000 Menschen der kleinen Weiler in den Mornes, diesen ausgezehrten Hügeln, die sich bis an den Horizont erstrecken. Sie erinnern an eine apokalyptische Vision der Entwaldung, die in Haiti noch nicht zu Ende ist.
Das Gebäude steht, aber die Mauern zeugen von der Kraft des Bebens, das Haiti am 12. Januar 2010 heimgesucht hat. Der Verwalter des Zentrums, ein Angstellter des haitianischen Gesundheitsministeriums, ist abwesend. Der Staat hat – in dieser und vielen andern Regionen Haitis – vor allem eine repräsentative Funktion, ausser, dass er oft selber die mageren, zur Verfügung stehenden Ressourcen ausbeutet.
Die Löhne, die Medikamente, die zusätzlichen Nahrungsmittel werden von der Organisation Médecins du Monde bezahlt. Die Organisation ist das Rückgrat des Gesundheitswesens in der ganzen Region.
Kubanische Ärzte
In Port-au-Prince und in den meisten Regionen des Landes sind es kubanische Ärzte und «Ärzte ohne Grenzen», die an die Stelle des Staates treten und seine Aufgabe als Grundversorger wahrnehmen.
Vor dem Erdbeben war der Staat schon abwesend, heute ist er es umso mehr. Die Ministerien sind verwaist, 35% der Beamten sind beim Erdbeben umgekommen. Die Ankunft der NGO hat den Graben zwischen der humanitären Hilfe und dem blutleeren Staat noch verstärkt.
Das Auftauchen der NGO hat nicht nur perverse Nebeneffekte wie die Höhe der Mieten, die Bereicherung der Oberschicht und das Wachstum der Ungleichheit verstärkt, es hat – in einer Gesellschaft, die nichts hat – auch masslose Erwartungen geweckt.
Das verantwortungslose Verhalten von einigen humanitären Helfern verschärft die Probleme: In der Region Goâve waren Médecins du Monde und andere Organisationen vor dem Beben bereits präsent. Sie haben mit grosser Bestürzung beobachtet, wie die amerikanischen NGO ankamen.
«Sie verteilten Geld von Kirchen an die Bevölkerung, indem sie es der Oberschicht zusteckten», flucht François Zamparini, der Hauptkoordinator der Schweizer Médecins du Monde in Haiti.
Indem sie Lebensmittel in Massen verteilt haben, haben diese NGO auch die Unterstützung der Landwirtschaft sabotiert. Der Aufbau der Landwirtschaft war während Jahren gefördert worden.
Die Dummheit der Nothilfe
Obwohl die Unterscheidung der seriösen Unternehmen von jenen, die keine organisatorischen Fähigkeiten haben, in den ersten Monaten nach dem Erdbeben geschehen ist, sind einige Dummheiten der Nothilfe nach wie vor sichtbar.
Am Ausgang von Grand-Goâve ist beispielsweise ein Zeltlager aus blauen Zelten aufgebaut, darauf das Logo «Samaritan’s Purse», das Lager einer evangelischen NGO. Trotzdem ist kein Mensch zu sehen.
«Das ist ein Phantom-Lager, wie es mehrere in der Region gibt», erklärt François Zamparini. «Die Leute kamen während des Tages hier her, um von der Lebensmittelhilfe zu profitieren. Am Abend kehren sie zu sich nach Hause zurück.»
Für eine Bevölkerung in äusserster Not stellen die NGO, nach Gott, die einzige Rettung dar. Weil diese zwei Dinge nicht getrennt werden, ist die Nothilfe oft der bewaffnete Arm christlicher Bekehrer, praktiziert von den nordamerikanischen Protestanten.
Die Politiker instrumentalisieren diese neue Konstellation, um sich ihre Wiederwahl zu sichern. So wie der Bürgermeister von Petit-Goâve, der vor einigen Monaten eine Demonstration organisiert hatte, um eine amerikanische NGO anzuprangern, die mit der Instandsetzung einer Strasse in Rückstand gekommen war.
«Liebe und Vergebung»
In der Nachbargemeinde von Grand-Goâve hat sein Amtskollege Salam Joseph die Unterstützung des Zentralstaates zusammengerechnet: Er verfügt demgemäss über ein Jahresbudget von 75’000 Franken für eine Bevölkerung, die auf 125’000 Personen geschätzt wird.
«Ohne internationale Unterstützung sind wir ohnmächtig», gesteht er. Diese Situation behagt ihm nicht. «Das schadet meiner Popularität», erklärt er.
Wie gross der Wohnbedarf der Einwohner seiner Gemeinde ist, kann der Bürgermeister von Grand-Goâve nicht einmal abschätzen. Er bezieht sich auf Schätzungen einer Agentur der UNO, welche die humanitären Leistungen koordiniert.
Der Verantwortliche vor Ort, Jean Bosco, sagt kurz: «Was die provisorischen Unterkünfte betrifft, kann ich weder eine Bilanz noch eine Prognose machen. Die Unterkünfte entsprechen nicht den Bedürfnissen der Bevölkerung sondern den Ressourcen, welche den NGO zur Verfügung stehen», sagt er bei einem wöchentlichen Treffen der humanitären Helfer mit den Gemeindebehörden.
Eine detaillierte Bilanz hätte der Bürgermeister indes gerne gehabt. Für die Gedenkzeremonie vom 12. Januar hätte er der Bevölkerung gerne von den Anstrengungen berichtet, die unter seiner Leitung unternommen worden sind. Für das Jahr 2011 hat er bereits das Motto zur Hand, das es ihm erlaubt, auf die endlosen Beschwerden seiner Schäfchen zu reagieren: Es lautet: «Liebe und Vergebung».
Den Schock dämpfen
Der Rückzug des Staates, der in allen Bereichen, auch im humanitären, zu beobachten ist, hat «dramatische Konsequenzen auf die haitianische Zivilgesellschaft», schätzt François Zamparini. «Die NGO federn den Schock ab und nehmen der Bevölkerung die Möglichkeit, sich aufzulehnen.»
Die Schuld liege zum Teil bei jenen, die heute für den auseinanderfallenden Staat einspringen. «Die Geberstaaten des Nordens sind jene, die das Gesundheitssystem des Südens mit ihrer Politik der Zerschlagung der öffentlichen Dienste zerstört haben. Darin liegt die ganze Ambivalenz des humanitären Engagements.»
Der Zugang zu Versorgung, der nach dem Erdbeben kostenfrei sein müsste, hat in Haiti laut Zamparini noch nie so gut funktioniert. Doch was geschieht, wenn die massive Mobilisierung der Massen abgeschlossen ist und der Staat und die Zivilgesellschaft derart am Boden sind wie noch nie?
Haiti ist eines der ärmsten Länder der Welt. Seine Geschichte ist geprägt von einer Serie von Naturkatastrophen.
Politisch waren in den 50 Jahren nach dem Staatsstreich Diktatoren am Ruder. Die Nichtregierungs-Organisation Transparency International setzt Haiti auf Position 12 der korruptesten Länder der Welt.
Auf dem Entwicklungs-Index der UNO liegt das Land auf dem 146. Platz. 78% der Bevölkerung leben in Armut, 54,9% in extremer Armut, wie Zahlen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (PNUD) zeigen. Vor dem Erdbeben lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 59,6 Jahren.
1970 produzierte Haiti 90% der benötigten Lebensmittel selber, heute müssen 55% importiert werden. Zwischen 1997 und 2003 hat sich die Mangelernährung laut dem UNO-Kinderhilfswerk Unicef auf zwei Fünftel der Bevölkerung verdoppelt.
Von allen Krediten, welche die Banken gewähren, gehen lediglich 2% in den Landwirtschafts-Sektor und in die Entwicklung ländlicher Gegenden. Weniger als 1,5% der Oberfläche des Landes ist von Wald bedeckt. Der Grund ist die massive Entwaldung, weil zum Kochen Holzkohle verwendet wird.
Schweiz-Haiti
1804 trennt sich Haiti von Frankreich und erklärt seine Unabhängigkeit. Die Schweiz anerkennt das Land sofort.
1934 eröffnet Haiti ein Konsulat in der Schweiz (es gab bereits ein erstes Konsulat im 19. Jahrhundert). Die diplomatischen Beziehungen mit der Schweiz werden über die Botschaft in Paris sichergestellt.
1935, nach der Besetzung durch US-Truppen, eröffnet die Schweiz ein Honorarkonsulat, das 1959 in ein Konsulat umgewandelt wird. 2006 wird daraus ein Generalkonsulat, 2007 eine Botschaft.
Während dem Zweiten Weltkrieg vertritt die Schweiz die Interessen Haitis in verschiedenen Staaten, während 1964 bis 1967 in Kuba.
Der wirtschaftliche Austausch zwischen den beiden Ländern ist sehr moderat. Durch die gemeinsame französische Sprache sind Kontakte im religiösen, wissenschaftlichen und kulturellen Bereich entstanden. Beide Länder sind Mitglieder der internationalen Frankophonie-Organisation.
Die Entwicklungszusammenarbeit wird grösstenteils von privaten karitativen Organisationen geleistet. Doch die Schweiz ist auch im humanitären Bereich engagiert, da Haiti das ärmste Land des amerikanischen Kontinents ist.
2007 lebten 130 Schweizerinnen und Schweizer in Haiti.
2008 lebten 451 Haitianerinnen und Haitianer in der Schweiz.
(Übertragen aus dem Französischen: Eveline Kobler und Christian Raaflaub)
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