«Mein ideales Afghanistan gleicht genau der Schweiz»
Warum hat sich die afghanische Armee nach 20 Jahren vor den Taliban in Luft aufgelöst? Der in Bern lebende afghanische Filmemacher Mortaza Shahed hat darauf eine klare Antwort.
SWI: Herr Shahed, seit mehr als 40 Jahren sucht Afghanistan nach Frieden, das Land hat mehrere Kriege erlebt, die Kommunisten, die sowjetische Intervention, die Mujahedin, die Taliban, die amerikanische Intervention und jetzt wieder die Rückkehr der Taliban. Was lösen die neuesten Bilder bei Ihnen aus?
Mein Vater verstarb im Alter von 90 mit der Hoffnung, den Frieden im Lande noch zu erleben. Auch ich kehrte nach der amerikanischen Intervention nach Afghanistan zurück, ebenfalls in der Hoffnung auf Frieden. Jetzt sieht meine achtjährige Tochter diese Machtkämpfe und hofft auf ein Ende und Frieden. Als die Taliban in Afghanistan 1996 die Macht übernahmen, war ich noch ein Kind und lebte mit meinen Eltern als Flüchtling im Iran. Ich erlebte damals alles im Fernsehen mit, genau wie jetzt. Aber egal ob als Kind oder Erwachsener: Ich hatte damals und habe heute Angst und viele Fragen.
SWI: Viele Menschen, die die Entwicklungen im Land medial mitverfolgen, können nicht nachvollziehen, wie sich eine Armee so schnell auflösen konnte und warum die Soldaten nicht kämpften. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Das war eine politische Entscheidung. Der Präsident war ein Paschtune, und er wollte nicht gegen die Taliban kämpfen, die auch Teil der paschtunischen Ethnie sind. Die Regierung ging nie richtig gegen den Terror vor, weil unsere Präsidenten Verräter sind und weil die Religion und die ethnische Zugehörigkeit für die Loyalitäten entscheidend sind.
SWI: Glauben Sie denn, dass die USA und die Nato die gesellschaftlichen Stammstrukturen in diesem Land gar nicht verstanden haben?
Die USA wollten um jeden Preis aus Afghanistan raus, sie haben das Abkommen abgeschlossen und uns den Taliban überlassen. Der Abzug war eine Fehlentscheidung, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich nicht bewusst waren, was danach passieren würde.
Der afghanische Filmemacher Mortaza Shahed setzt sich für Flüchtlinge in der Schweiz ein. Er ist selber als Flüchtling im Iran aufgewachsen und gehört der Ethnie Hazara an, der drittgrössten Bevölkerungsgruppe Afghanistans nach den Paschtunen und den Tadschiken. Diese Minderheit wurde unter den Taliban besonders unterdrückt, und ihre Moscheen waren im besonderem Masse Zielscheiben für Übergriffe und Anschläge. Millionen von Hazara haben das Land in den letzten Jahren verlassen.
Nach der amerikanischen Militärintervention und dem Sturz der Taliban kehrte Shahed 2003 zurück nach Afghanistan. Zehn Jahre später musste er sein Land mit seiner Frau und seiner einjährigen Tochter wieder verlassen, nachdem er einer Entführung entkommen war, weil er einen politischen Film gedreht hatte. Nachdem er in die Schweiz geflüchtet war, erhielt er den Status als anerkannter Flüchtling. Hier drehte er später den Film «Das verlorene Paradies», in dem er «einen tiefen Einblick in die Seele eines geflüchteten Menschen gibt,Externer Link der Angst hat als Flüchtling zu sterben – ohne je die Chance auf ein gutes Leben gehabt zu haben».
SWI: Einige glauben, mit den Taliban an der Macht könnte der Frieden zurückkehren, auch wenn der Preis dafür das Ende der Freiheit ist. Wie sehen Sie das?
Im Moment haben die Afghanen und Afghaninnen beides verloren. Man weiss ja noch nicht einmal, ob der Krieg zu Ende ist. Der Sohn von Ahmed Massud Shah, des ehemaligen Anführers der Nordallianz, hat den Taliban vor Kurzem den Kampf erklärt. Andere Soldaten, die dissertiert sind, könnten sich ihm anschliessen. Als die Taliban das letzte Mal Kabul besetzt hatten, griffen sie Universitäten und Spitäler an, brachten Tausende um und führten danach ein brutales Regime. Frieden sieht anders aus.
SWI: Aber anscheinend haben die Taliban viel Unterstützung auf dem Land?
Ja, besonders im Süden und im Osten, aber ich glaube nicht, dass sie dort in der Mehrheit sind. Die meisten – und insbesondere die Menschen in den grossen Städten – akzeptieren diese extremistische Regierung respektive eine Scharia –Regierung (die islamische Scharia-Gesetze einführt) nicht. Sie wollen ihre Freiheit behalten.
SWI: Empfinden Ihre Verwandten und Bekannten in Afghanistan auch diese Ängste?
Jeder da hat Angst. Die Taliban spielen den Medien etwas vor. Aber in den sozialen Medien sehen wir Videos, die zeigen, was sie in der Realität machen. Sie gehen von Haus zu Haus und inhaftieren die Leute, die in der Regierung mitgearbeitet haben. Ich verfolge diese Entwicklungen und habe Angst um meinen Bruder, den ich noch nicht in die Schweiz holen konnte. Die Leute haben existenziellen Ängste. Mit dem Abzug wurde der Aufbau von 20 Jahre zunichte gemachte, all die Errungenschaften in Bezug auf Menschenrechte, Bildung für Kinder und insbesondere Mädchen- und Frauenrechte. Und jetzt wollen die meisten Afghanen aus dem Land.
SWI: Wie sähe das Afghanistan aus, das Sie sich wünschen?
Mein ideales Afghanistan gleicht genau der Schweiz, ein Land, in dem verschiedene Sprachgemeinschaften, Ethnien und Religionsangehörige in einem föderalistischen Staat zusammenleben. Leider gab es nie eine gemeinsame afghanische Identität, die Nachbarländer haben einen grossen Einfluss in der Innenpolitik und deswegen sind wir nach 20 Jahren gegen die Taliban gescheitert.
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