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Kollektives Kinoerlebnis für ein junges Publikum

Klein, aber oho: Junge, aktive Kinoexperten vor einer Filmvorführung der Zauberlaterne. magic-lantern.org

Kinder sollen Schlüsselwerke der Filmkunst kennenlernen und zu kritischen Zuschauern reifen. Dieses Ziel verfolgt der in der Schweiz geborene Kinderfilmclub, der sich auch im Ausland etabliert hat, seit 1992. Nun erhalten die Mitbegründer und heutigen Leiter der Zauberlaterne an den Solothurner Filmtagen den "Prix d'honneur".

Schon eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung warten ein paar Dutzend Kinder im Kino ABC in Bern, einem der 75 Zauberlaterne-Klubs der Schweiz, ungeduldig auf die Vorstellung, und es werden immer mehr. Sie kommen mit Freunden oder werden von Eltern oder Grosseltern gebracht, die allerdings draussen bleiben müssen.

Auch der 9-jährige Luc ist hier, zusammen mit seinem jüngeren Bruder Louis. Die beiden sind bereits im zweiten Jahr dabei. Luc weiss, dass heute der Film Hasenherz gezeigt wird, denn er hat die illustrierte Klubzeitschrift gelesen, welche die Zauberlaterne-Mitglieder vor jeder Vorstellung zugeschickt bekommen. Er ist gespannt.

Kurz vor 14 Uhr erhalten die rund 200 kleinen Kinoexperten Einlass, sie drängeln und schupsen, sagen Mama und Papa tschüss und stürmen auf ihre Lieblingsplätze. Im Kinosaal sind die Kinder unter sich. Wer sich fürchtet, findet Trost bei einer der “Angsttanten”, die am Rande des Kinosaals platziert sind.

Im Film Hasenherz von Gunter Friedrich, gedreht 1987 in der DDR, geht es um Mut und Verliebtsein. Ein Mädchen, das aussieht wie ein Junge und deshalb in der Schule gehänselt und gemobbt wird, soll in einem Film mitspielen – und zwar in der Rolle eines Prinzen. Es wächst in die Rolle hinein und über sich hinaus. Eine Erfolgsstory!

Vor Beginn der Vorstellung werden die Kinder mit einer interaktiven Moderation und szenischen Einführung durch zwei Schauspielerinnen auf den Film und die Kernthemen eingestimmt. Anschliessend werden die goldenen Zauberlaterne-Regeln wiederholt: Keinen Kaugummi an die Sessel kleben, nicht essen und trinken und die Nachbarn nicht stören. Dann geht’s los.

Die Zauberformel

Die ZauberlaterneExterner Link bietet ihren 6 – 12-jährigen Mitgliedern jedes Jahr eine neue Auswahl an Filmen aus der über 100-jährigen Filmgeschichte und will die jungen Zuschauer auch mit der Dramaturgie, Machart und den Techniken des Films vertraut machen. Es sind Filme zum Lachen, Träumen, Weinen und Fürchten. Vom Stummfilm über erste Ton-und Farbfilme bis zur aktuellen Computeranimation ist alles dabei. Auch Kurzfilme sind beim jungen Publikum beliebt. Dabei ist es den Leitern der Zauberlaterne wichtig, vor allem Filme aus Ländern zu zeigen, die Kinder selten zu sehen bekommen.

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Hauptsächlich bietet das Programm Kinderfilme, wie etwa Pippi Langstrumpf oder Mein Name ist Eugen. Es werden aber auch Werke gezeigt, die für Erwachsene produziert wurden, jedoch auch für Kinder zugänglich sind, wie beispielsweise die Stummfilme von Charlie Chaplin oder Buster Keaton. Sind da die Kleinen nicht überfordert?

Nein, finden Francine Pickel und Vincent Adatte, die Mitbegründer und heutigen Leiter der Zauberlaterne. Wichtig sei die spielerische Einführung und die Vorbereitung auf den Film. “Ältere Kinder haben manchmal sogar mehr Angst als die jüngeren. Und auch wenn die Kleinen einmal nicht alles verstehen, so sind sie doch fasziniert von dem, was sie auf der Leinwand sehen”, sagt Adatte.

Heikle Selektion

Allerdings mussten auch schon Filme aus dem Programm genommen werden. Entweder weil der Film nicht digitalisiert vorliegt oder weil Eltern Einwand erhoben. So etwa beim deutschen Stummfilm Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1922, der die Geschichte eines Vampirs erzählt. “Die Reaktionen waren heftig, insbesondere in der Deutschschweiz gab es Kritik, obwohl die Kinder am TV Filme sehen, die gruseliger sind”, meint Francine Pickel. Auch Adatte hätte ihn gerne im Programm behalten. “Nosferatu erzählt von der Traurigkeit, ein Monster zu sein, aber auch Positives.”

DIE ZAUBERLATERNE

1992: Gründung in Neuenburg

1994: Lancierung in der Deutschschweiz

1995: Lancierung im Tessin

Schweiz: 75 Filmclubs

Schweiz: 22’000 – 24’000 Club-Mitglieder

Ausland: 20 Filmclubs, darunter in Mexiko, Argentinien, Senegal, Marokko, Frankreich, Spanien, Polen und Georgien.

Seit 1992 wurden insgesamt etwa 200 verschiedene Filme gezeigt: Europäische (51%), amerikanische (25%), andere Kontinente (10%), Klassiker (9%), Schweizer (5%).

Mitgliederbeitrag: 40 Franken pro Kind für 9 Vorstellungen. Das zweite Kind derselben Familie zahlt 30 CHF, das dritte ist gratis.

Jahresbudget für Dachverein in Neuenburg, 20 Mitarbeitende (Filmauswahl, Programmierung, Promotion, Clubbegleitung, Übersetzungen, Ausbildung): 1,5 Mio. Franken. Die Clubs haben ihr eigenes Budget.

Die Zauberlaterne wird u.a. vom Bundesamt für Kultur, Sektion Film und von der Loterie Romande unterstützt. Die Post stellt ihr Sponsoring dieses Jahr ein.

Nina O. aus Bern, heute 26 Jahre alt, erinnert sich: “Als Nosferatu gezeigt wurde, durfte meine Freundin Marie-Louise nicht mitkommen, da ihre Mutter fand, der Film sei zu furchterregend. Da nahm ich an ihrer Stelle meinen Nachbarn mit. Angst hatte ich nicht.”

Aus dem Programm genommen wurde auch ein Film von Luigi Comencini aus den 1950er-Jahren. “Der ist so traurig, dass zu viele Kinder weinten. Und wir wollen ja nicht, dass sie traumatisiert nach Hause gehen”, sagt Pickel.

Die Auswahl der Filme ist und bleibt eine delikate Angelegenheit. So könne man die Werke von Federico Fellini zum Beispiel nicht zeigen – wegen der erotischen Szenen. Besonders heikel sei die Selektion für arabische Länder, wo man die Zensur berücksichtigen müsse, so Adatte. Die Zauberlaterne ist in Marokko und Senegal, aber auch in Georgien, Polen, Frankreich, Spanien, Argentinien und Mexiko aktiv.

Die Zeiten ändern sich

Früher, zu den Anfängen der Zauberlaterne, gab es für Kinder relativ wenig Kulturangebote, heute ist die Konkurrenz um einiges grösser. Zudem können die Kinder über Internet und unzählige Fernsehkanäle jederzeit Filme konsumieren. Diese mediale Entwicklung bedeutet für den Kinderfilmclub eine grosse Herausforderung. Hinzu komme, so Adatte, dass die Eltern von heute die meisten der in der Zauberlaterne gezeigten Filme nicht mehr kennen.

“Es braucht einen grossen Effort, um die Eltern mit unserem Angebot zu erreichen. Um Werbung zu machen, ist der Kontakt zu den Schulen zentral. Allerdings ist es im Vergleich zu früher schwieriger geworden, die Einschreibeformulare an Schulen zu verteilen, vor allem in der Deutschschweiz.” Nötig sei ein stärkerer Einsatz über mehrere Saisons, damit die Kinder über eine Zeitspanne von mehreren Jahren dabei blieben. “Gefordert sind insbesondere die lokalen Klubs, die mehr Werbung machen müssen.”

Kollektiver Ohren- und Augenschmaus

Die Initianten der Zauberlaterne, die sich als Idealisten bezeichnen, glauben aber nach wie vor an ihre Zauberformel. “Doch auch wir passen unsere Werbung den neuen Gegebenheiten an. Ausserdem ist die Zauberlaterne mit einer Fernsehsendung am Westschweizer Fernsehen präsent und entwickelt spielerische Angebote fürs Internet und die Schulen.”

Vor allem aber werde vermehrt der soziale Vektor des Kinos in den Vordergrund gestellt, betont Adatte. “Zusammen mit anderen Kindern vor einer grossen Leinwand im Kinosaal zu sitzen, Emotionen und Meinungen zu teilen, ist ein Erlebnis. Das bringt mehr als ein Film am Fernsehen. Man sollte Kinder fürs Kino begeistern, wenn sie noch klein sind. “Es ist gut, wenn sie ein paar Jahre dabei sind”, sagt Francine Pickel.

Für Marie-Louise B. aus Bern, heute 28-jährig, war die Zauberlaterne-Zeit in den 1990er-Jahren jedenfalls prägend, auch wenn sie Nosferatu damals verpasst hat. “Die Zauberlaterne zeigte stets aussergewöhnliche Filme, die ich sonst wohl nie gesehen hätte. Einmal im Monat gehörte das Kino nur uns Kindern. Die liebevoll arrangierten kleinen Theater-Einspielungen vor dem Film machten den Nachmittag zu einem einzigartigen Erlebnis.”

Prix d’honneur

Der “Prix d`honneur” der Solothurner Filmtage wird von den Gemeinden im solothurnischen Wasseramt gestiftet und ist mit 10’000 Franken dotiert. Der Preis wird an Personen vergeben, die sich hinter den Kulissen für den Schweizer Film einsetzen.

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