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Wer verantwortet die Klimaschäden, wer haftet? Die UNO nimmt die Staaten unter die Lupe

Menschen tragen ihre Habseligkeiten durch eine überflutete Landschaft.
Verstärkt durch die globale Erwärmung überfluteten extreme Monsunregenfälle im Jahr 2022 ein Drittel Pakistans. Laut UNICEF starben mehr als 1500 Menschen, darunter 500 Kinder. Keystone

Das Urteil gegen die Schweiz wegen Versäumnissen im Klimaschutz verdeutlicht die Verpflichtung der Regierung zu handeln. Doch wie steht es um die Haftung für klimabedingte Schäden? Der Internationale Gerichtshof wird bald darüber entscheiden – ein potenzieller Wendepunkt für die Umweltgerechtigkeit.

Welche Verantwortung tragen die Regierungen für die durch die globale Erwärmung verursachten Schäden? In den kommenden Monaten wird der Internationale Gerichtshof, das wichtigste Rechtsorgan der Vereinten Nationen, seine Meinung zu dieser Frage äussern.

Am 29. März 2023 rief die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Internationalen Gerichtshof auf Antrag des Inselstaates Vanuatu dazu auf, sich zu äussern. Der Inselstaat leidet bereits unter dem steigenden Meeresspiegel leidet. Das Gericht soll festhalten, welche Verantwortung zur Begrenzung der globalen Erwärmung die Staaten haben, und wer für die verursachten Schäden aufkommen muss.

Es wird das erste Mal sein, dass der “Weltgerichtshof” zu diesem Thema eine Aussage trifft. Er hat bereits 91 schriftliche StellungnahmenExterner Link von Ländern und Organisationen erhalten, “die bislang grösste Anzahl in einem Verfahren dieser Art“, wie der Gerichtshof feststellteExterner Link.

Er wird im Herbst eine Anhörungen durchführen, und dann Anfang 2025 sein Gutachten abgeben. Auch wenn dieses nicht bindend ist, könnte es erhebliche Auswirkungen auf das Völkerrecht haben.

Die jüngste Verurteilung der Schweiz wegen Versäumnissen im Klimaschutz könnte die Schlussfolgerungen der Richter:innen in Den Haag beeinflussen.

Zur Erinnerung: Am 9. April urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Schweizer Regierung die Menschenrechte älterer Frauen verletzt hat. Sie habe nicht die notwendigen Massnahmen zur Bekämpfung der globalen Erwärmung ergriffen.

Angestossen hatte das Verfahren eine Gruppe älterer Frauen, die als “Klima-Seniorinnen” weltweit Schlagzeilen machten.

Nikki Reisch, Leiterin des Klima- und Energieprogramms am Internationalen Zentrum für Umweltrecht (CIEL) in Genf, sagt: “Der Europäische Gerichtshof hat gezeigt, dass Staaten verpflichtet sind, Massnahmen zur Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen zu ergreifen. Aber nicht nur das: Er hat damit auch die Grundlage für die Bestimmung ihrer rechtlichen Verantwortung für die durch die Klimakrise verursachten Schäden gelegt.”

Das Recht auf eine gesunde Umwelt

Auch wenn dieses Urteil bindend ist und einen Präzedenzfall für ganz Europa schafft, hört der Kampf damit nicht auf. Seitdem fordern mehr als 400 NGOs und Forschungsinstitute, das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt durch die Annahme eines Zusatzprotokolls in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu verankern.Externer Link

Bisher wird dieses Recht indirekt über die Artikel 2 (Recht auf Leben) und 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der EMRK garantiert.

“Das Strassburger Urteil ist ein Fortschritt für die Klimagerechtigkeit, aber die Zulässigkeitskriterien sind immer noch sehr streng“, schränkt Raphaël Mahaim ein, Anwalt der Klimaseniorinnen und Parlamentarier der Grünen Partei der Schweiz.

So hat der Europäische Gerichtshof ähnliche Klagen von sechs jungen Portugies:innen und dem Franzosen Damien Carême für unzulässig erklärt, da sie nicht “persönlich und direkt von der Handlung oder Untätigkeit der öffentlichen Behörden betroffen“ seien.

“Das Urteil bezieht sich auch nur auf die Verpflichtungen zur CO2-Reduzierung“, fügt er hinzu. Mit einem Zusatzprotokoll in der Europäischen Konvention können wir präziser und konkreter sein.“

Nikki Reisch von der Organisation CIEL stimmt zu: “Ein zusätzliches Protokoll über das Recht auf eine gesunde Umwelt würde die Verpflichtungen der Staaten zum Klimaschutz stärken und klären.“

Dieses Recht wird bereits vom Menschenrechtsrat und der Generalversammlung der Vereinten Nationen anerkannt, und zwar seit Oktober 2021 bzw. Juli 2022.

Von Inselstaaten zum “Weltgerichtshof“

Nun richten sich die Augen auf den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag, dessen Urteil weit über die Grenzen Europas hinaus Auswirkungen haben wird.

Nikki Reisch sagt: “Als ‘Weltgerichtshof’ haben die Ansichten des IGH Gewicht. Seine Aussage über die Verpflichtungen von Staaten zum Klimaschutz wird Gerichte auf der ganzen Welt beeinflussen, ebenso wie Regierungen, die versuchen, Gerichtsverfahren zu vermeiden.“

Nach Ansicht der Expertin könnte der IGH die Regierungen dazu bringen, ehrgeiziger zu sein. Und er könnte die Frage der Klimaschäden präzisieren, die am stärksten die Regionen betreffen, die oft am wenigsten zur globalen Erwärmung beigetragen habenExterner Link.

Es stellt sich jedoch die Frage, wie ein solcher Haftungsmechanismus implementiert werden soll, wenn selbst die verbindlichen Klimaziele des Pariser Abkommens nur selten eingehalten werden.

“Die Achillesferse des internationalen Klimarechts ist das Fehlen wirksamer Systeme zur Festlegung von Verantwortlichkeiten“, sagt David R. Boyd, Sonderberichterstatter für Menschen- und Umweltrechte. Er unterstützt die Forderung, die Europäische Konvention um ein Protokoll zu ergänzen.

Seiner Meinung nach sollte das Recht auf eine gesunde Umwelt in den Verfassungen und nationalen Gesetzen jedes Staates anerkannt und dann durch konkrete Massnahmen wie die Verringerung der Treibhausgasemissionen, den Schutz der biologischen Vielfalt oder die Verbesserung der Luftqualität umgesetzt werden.

Kommt es zu einer Klageflut?

Für Nikki Reisch spielen neben den UN-Verhandlungen auch nationale und internationale Gerichte eine entscheidende Rolle, um sicherzustellen, dass Regierungen das Recht auf eine gesunde Umwelt respektieren.

Als Beispiel nennt sie das jüngste Urteil in La Oroya in den Anden: Am 28. März entschied der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Peru die Rechte der örtlichen Gemeinschaften verletzt hat, als es die Verseuchung der Region durch den Metallabbau zuliess.

Besteht jedoch nicht die Gefahr, dass die Gerichte von einer Welle von Umweltklagen überrollt werden?

Sonderberichterstatter David R. Boyd sagt: “Klimaprozesse sind und bleiben ein winziger Bruchteil der Gesamtzahl der vor Gericht verhandelten Fälle. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Prozesse nicht mehr notwendig wären, wenn Staaten und Unternehmen ihren Verpflichtungen im Bereich der Umwelt- und Menschenrechte nachkommen würden!“

Darüber hinaus betont er die Notwendigkeit einer “populäreren, gerechteren und effektiveren Umweltpolitik, die auf Unternehmen abzielt, die einen unverhältnismässig hohen Anteil an den Treibhausgasemissionen verursachen“.

Während seiner gesamten Amtszeit prangerte David R. Boyd die Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmen und Staaten an, welche die Einführung strengerer Vorschriften, insbesondere bei der Ölexploration, verlangsamt haben.

“Anstatt die Verursacher zahlen zu lassen, zahlen die Staaten die Verursacher“, sagt er und verweist auf Rechtsstreitigkeiten in Höhe von mehreren hundert Milliarden Dollar.

Genf als neuer Schauplatz für Klimastreitigkeiten? 

Nikki Reisch betont, dass das Urteil der Schweizer Klimaschützerinnen eine Bresche schlägt. Es schaffe “die rechtliche Grundlage“ dafür, grosse Emittent:innen für klimabedingte Schäden haftbar zu machen.

“Das Urteil zeigt, dass die globale Erwärmung eine aktuelle Angelegenheit ist, die sich bereits auf gefährdete Regionen und Bevölkerungsgruppen auswirkt”, so Reisch.

So sehr, dass einige Länder Kompensationen fordern, darunter Inselstaaten wie Indonesien und Vanuatu. Auf der COP28 wurde ein Fonds für “Verluste und Schäden“ zur Behebung von Klimakatastrophen verabschiedet, der jedoch nach Ansicht vieler Expert:innenExterner Link nicht ausreichen wird.

Am Genfersee wird eine neue UNO-Organisation gegründet: Das Santiago-Netzwerk, das von Klimakatastrophen betroffene Länder mit technischer Hilfe unterstützen wird.

Hauptziel des Netzwerks ist es, Verluste und Schäden zu begrenzen, indem gefährdete Regionen entsprechend ausgerüstet und geschützt werden.

“Das Netzwerk wird dazu beitragen, Beweise für klimabedingte Schäden zu sammeln”, kommentiert Nikki Reisch.

“Das könnte zur Bewertung der Pflichten der Staaten beitragen. Es bleibt jedoch abzuwarten, welche konkrete Rolle das Netzwerk bei der Beilegung von Klimastreitigkeiten spielen wird.“

Artikel 8 des Pariser Abkommens, der Verluste und Schäden anerkennt, legt bislang keine rechtlich bindende Verpflichtung fest.

Am Ende des Monats wird David R. Boyd sein Amt an seine Nachfolgerin Astrid Puentes übergeben. Bei dieser Gelegenheit wird die Funktion umbenanntExterner Link, in “Sonderberichterstatter:in für das Menschenrecht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt“.

Editiert von Virginie Magin/sj, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger.

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