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“Eine Demokratie braucht unbequeme Filme”

Der Leiter der Sektion Film beim Bundesamt für Kultur, Ivo Kummer, kam nach Locarno, um den staatlichen Förderbeitrag von 260'000 für einen Dokumentarfilm über Christoph Blocher zu verteidigen. Keystone

Der am Filmfestival von Locarno als Premiere laufende Dokumentarfilm über Christoph Blocher hat eine kontroverse Debatte um die künstlerische Freiheit und die Rolle des Staates bei der Filmförderung ausgelöst. Der Schweizer Filmchef Ivo Kummer hat Mühe mit dieser Polemik.

Ivo Kummer ist ein ausgewiesener Kenner des Schweizer Filmschaffens und seiner Tradition des Dokumentarfilms. 20 Jahre lang war er Direktor der Solothurner Filmtage, bevor er im August 2011 zum Leiter des Sektion Film im Bundesamt für Kultur (BAK) ernannt wurde.

swissinfo.ch traf Kummer am Filmfestival von Locarno, wo der Film L’Expérience Blocher am 13. August als Weltpremiere gezeigt wurde. Der Dokumentarfilm von Jean-Stéphane Bron beleuchtet den umstrittenen Politiker und alt Bundesrat Christoph Blocher, eine Leitfigur der Schweizer Konservativen und Anti-Europäer.

swissinfo.ch: Noch bevor Brons Film auf der Piazza Grande gezeigt wurde, hat er schon sommerlich-hitzige Debatten ausgelöst. Gewisse Linkspolitiker kritisierten die staatliche Subvention für den Dok-Film über Christoph Blocher. Haben Sie damit gerechnet?

Ivo Kummer: Als Jean-Stéphane Bron uns sein Projekt vorlegte, um Subventionen des Bundes für den Film zu erhalten, haben wir uns von der Expertenkommission natürlich schon gefragt, ob dieser Regisseur in der Lage ist, einen Film über einen kontroversen Politiker wie Christoph Blocher zu drehen, der wegen seiner starken Persönlichkeit  bekannt ist. Unsere Antwort lautete: Ja.

Bron hat in seiner Karriere schon viele schwierige Themen mit Vorsicht und hoher Sensibilität angepackt (etwa die Finanzkrise oder die internen Vorgänge im Schweizer Parlament, Anm.d.Red.), ohne das Publikum zu indoktrinieren, aber mit der Möglichkeit, dass sich die Zuschauer eine eigene Meinung bilden.

Ivo Kummer

Es liegt ja in der Tradition des Films, Persönlichkeiten zu beleuchten, die eine wichtige soziale, ökonomische und politische Rolle gespielt haben.

swissinfo.ch: Noch bevor der Brons Film auf der Piazza Grande gezeigt wurde, hat er schon sommerlich-hitzige Debatten ausgelöst. Gewisse Linkspolitiker stellten die staatliche Subventionen für den Blocher-Film in Frage. Haben Sie damit gerechnet?

Ich muss zugeben, dass mich die Polemik um die Frage, ob es legitim sei, einen Film über einen Mann zu subventionieren, der die letzten 20 Jahre an Politik in diesem Land bestimmt hat, doch überrascht hat. Es liegt ja in der Tradition des Films, Persönlichkeiten zu beleuchten, die eine wichtige soziale, ökonomische und politische Rolle gespielt haben.

In der Vergangenheit wurden Filme über Jean Ziegler oder Elisabeth Kopp gedreht. Auch der deutsche Vizekanzler Joschka Fischer wurde porträtiert, was in Bezug auf die Subventionen von geringerer Bedeutung war. Ich war auch sehr erstaunt darüber, dass die Diskussionen einen Film betrafen, den noch niemand gesehen hat und manche erklärtermassen nicht einmal sehen wollen. 

Ich persönlich fand die Idee eines Dokumentarfilms über Christoph Blocher sofort interessant. Ich war gespannt darauf, mehr über sein Denken und Handeln sowie sein Privatleben zu erfahren.

swissinfo.ch: Sie erwähnen den Dok-Film über Elisabeth Kopp, der ersten zur Bundesrätin gewählten Politikerin der Schweiz, die nach einem Skandal zurücktreten musste. Dieser Film wurde fast 20 Jahre nach ihrem Rücktritt gedreht. Bei Blocher geht es aber um einen aktiven Politiker, der nach wie vor eine wichtige Rolle in der helvetischen Politik spielt…

I.K.: Der Staat hat nicht Christoph Blocher finanziert, sondern einen unabhängigen Regisseur, der in aller Freiheit entschieden hat, einen amtierenden Politiker zu begleiten. Es ist doch genauso wie beim Film über Jean Ziegler, einer Leader-Figur der Schweizer Linken.

Ich bin fest überzeugt, dass der Staat unterschiedliche Kulturen und die Unabhängigkeit der Künstler unterstützen muss. Wenn wir auf die Inhalte Einfluss nehmen würden, wäre das wie ein direkter Angriff auf die Demokratie. Die Kultur soll keine Werbung für politische Haltungen machen. Ganz im Gegenteil: Sie soll Fragen stellen und aufgreifen.

Ivo Kummer

Die Kultur soll keine Werbung für politische Haltungen machen. Ganz im Gegenteil: Sie soll Fragen stellen und aufgreifen.

Das Kino ist ein Seismograph für die Zukunft einer Gesellschaft und ein Spiegel für ihren Ist-Zustand. Probleme werden thematisiert. Und das kann manchmal unangenehm sein. Es ist wie der morgendliche Blick in den Spiegel, wenn man sieht, dass man gealtert ist. Dass ist unangenehm, aber man muss damit umgehen. Wenn wir diese Regel nicht beachten würden, hätten wir eine Staatskultur wie in den 1960er-Jahren in den Oststaaten.

swissinfo.ch: In der Vergangenheit hat das Parlament allerdings die Schraube in Bezug auf die künstlerische Freiheit angezogen, indem das Budget für Pro Helvetia nach der umstrittenen Ausstellung von Thomas Hirschhorn in Paris gekürzt wurde. Könnte so ein Fall nochmals eintreten? Und welchen Einfluss hat dies auf Ihre Entscheide?

I.K.: Der Fall Hirschorn war nicht der einzige seiner Art. Auch nach dem Dokumentarfilm über Jean Ziegler hat das Parlament die Filmförderung um eine Million Franken gekürzt. Aber wir lassen uns davon nicht einschüchtern.

Der jetzige Fall liegt anders: Damals hat sich die Rechte aufgeregt, nun protestiert die Linke oder ein Teil der Linken. Ich denke aber nicht, dass diese neuerliche Polemik zu einer Art Zensur führen wird.

Der Fall Bron zeigt für mich auch auf, dass es wohl nötig ist, die künstlerische Freiheit alle fünf oder zehn Jahre neu zu diskutieren, um sicherzustellen, dass sie wirklich respektiert wird. Diese Auseinandersetzung müssen wir mutig führen, sowohl auf  politischer als auch auf künstlerischer Ebene.

Ivo Kummer, 1959 in Solothurn geboren, studierte Germanistik und Journalismus an der Universität Freiburg.

Er begann seine Berufstätigkeit als Freelance-Journalist. 1986 wurde er zum Sprecher der Solothurner Filmtage.

1987 gründete er die eigene Produktionsfirma Insertfilm AG, deren Leiter und Produzent er bis heute ist.

1989 wurde er zum Leiter der Solothurner Filmtage ernannt.

Seit 1. August 2011 ist er Leiter des Sektion Film beim Bundesamt für Kultur (BAK). Dort folgte er auf Nicolas Bideau.

swissinfo.ch: Dieses Jahr gibt es nicht nur Jean-Stéphane Bron, sondern auch weitere Schweizer Regisseure im internationalen Wettbewerb und auf der Piazza Grande. Ist dies ein Zeichen, dass das Schweizer Filmschaffen gesund ist?

I.K.: Ich denke, wir sind auf gutem Weg. Das Festival von Locarno stellt mit Sicherheit ein gutes Schaufenster dar. Wir können zufrieden sein. Das Schweizer Filmschaffen war auch in der Sektion Quinzaine des réalisateurs in Cannes gut vertreten und wird in einer Koproduktion mit Italien auf der Biennale von Venedig vertreten sein.

swissinfo.ch: Und wie steht es um die neue Generation?

I.K.: Es gibt junge Regisseure. Ich sorge mich mehr um den Mangel an Drehbuchautoren. Dieser Beruf ist weitgehend unbekannt und wenig anerkannt in der Schweiz. Doch die heutige Situation verhindert die Entstehung von guten Spielfilmen. Um ein Drehbuch und die Charakter der Personen zu entwerfen, braucht es Zeit, Ausbildung und viel Kreativität.

Ich denke, wir müssen in drei Bereichen zulegen: Die Ausbildung in den Schulen verbessern, den Jungen mehr Zeit geben, um an einem Drehbuch zu arbeiten. Ausserdem müssen wir mutiger und kreativer sein. Und auf Selbstzensur verzichten.

In seinem jüngsten Dokumentarfilm, L’Expérience Blocher, zeichnet der Schweizer Regisseur Jean-Stéphane Bron ein Porträt des Enfant terrible der Schweizer Politik, des erfolgreichen Unternehmers, Ex-Bundesrats und Leitfigur der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP).

Bron hat ihn während des Wahlkampfs für die Eidgenössischen Wahlen 2011 begleitet. Vier Jahre nach seiner Abwahl aus der Landesregierung, bereitete Blocher seine Revanche vor, musste aber eine persönliche Niederlage verkraften. Und auch seine Partei verlor erstmals seit 1991 an Wählerstimmen.

Bereits vor der Uraufführung auf der Piazza Grande in Locarno erregte der Dokumentarfilm den Zorn mehrerer Politiker aus dem linken Lager. Im Zentrum der Debatte stand der Förderbeitrag des Bundeamts für Kultur von 260’000 Franken für den Film über eine umstrittene Figur, der in der Schweizer Politlandschaft noch immer eine wichtige Rolle zukommt.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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