Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Einbahn-Fahrt zum Heiligen Krieg

Reuters

Nachrichtendienste stellen in Europa eine Zunahme dschihadistisch motivierter Reisen fest. Auch in der Schweiz sorgten solche Fälle jüngst für Schlagzeilen. Das Internet spielt bei der Radikalisierung orientierungsloser junger Menschen im Westen eine wichtige Rolle.

Ein 19 Jahre alter Gymnasiast aus Biel wurde Anfang Juni in Kenia angeklagt, weil er verdächtigt wurde, sich einer Dschihad-Bewegung in Somalia angeschlossen zu haben.

Zwar gibt es noch etliche offene Fragen, doch sorgt der Fall in Biel für Unruhe, vor allem unter der muslimischen Bevölkerung, die dort ziemlich gross ist – fast 10% der 50’000 Einwohnerinnen und Einwohner.

“Unsere ganze Gemeinde steht unter Schock”, erklärt Khalid Ben Mohamed, einer der Imame der Moschee Arrahman (siehe Interview).

Der von seinen Mitschülern als liebenswürdig, ruhig und fleissig beschriebene M.N.* streitet seit seiner Festnahme vehement ab, irgendwelche Verbindungen zur islamistischen Al-Shababb-Miliz zu haben. Der im Februar 2011 plötzlich verschwundene M.N. stammt aus Jordanien, lebte aber seit seiner Kindheit in Biel. Bisher machte er keine detaillierten Angaben zu seinen Reisebewegungen und Motiven.

Aus Mangel an Beweisen haben die kenianischen Behörden die Anklage auf Komplizenschaft mit einer terroristischen Gruppe fallengelassen. Doch die Eidgenossenschaft verweigert ihm die Rückkehr in die Schweiz, da er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle.

“Es gibt klare Anzeichen dafür, dass sich die betroffene Person in Somalia in Gebieten aufgehalten hat, in denen dschihadistische Gruppierungen in einem Konflikt aktiv sind”, gab das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement als Begründung an.

Tod im Kampf gegen Ungläubige

Der Fall kommt ein Jahr, nachdem die Sonntagszeitung den Tod eines jungen Mannes mit dem Pseudonym “Abou Saad, der Tunesier” – sein Deckname – publik gemacht hatte. Es hatte Jahre gedauert, bis das tragische Schicksal des jungen Mannes öffentlich geworden war, der 2006 umgekommen war.

Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) bestätigte schliesslich, dass er im Rahmen einer amerikanischen Anti-Terror-Operation ums Leben gekommen sei.

Wie M.N. hatte auch Abou Saad in Biel gelebt und regelmässig die Moschee Arrahman besucht, die als die konservativste und am stärksten politisierte der acht muslimischen Kultusstätten in der Stadt gilt.

“Er war ein unauffälliger junger Mann ohne Vorgeschichte”, sagt Imam Khalid Ben Mohamed in diesem Zusammenhang. Doch eines Tages habe er die Absicht geäussert, in den Irak zu gehen. “Ich habe ihm davon abgeraten”, unterstreicht der Imam.

Wie die Schweizer Behörden denkt Ben Mohamed, der junge Mann sei über Propaganda-Videos im Internet radikalisiert worden, bevor er nach Syrien reiste, wo er von einer Untergruppe der Al-Kaida im Irak rekrutiert worden sein soll.

Die Macht der Faszination

Stéphane Lathion, Koordinator der Forschungsgruppe zum Islam in der Schweiz (GRIS), bekräftigt, die Radikalisierung erfolge meist “innerhalb von kleinen Gruppen, die sich von den muslimischen Gemeinschaften losgelöst haben”.

Der Forscher unterstreicht, es brauche auch nicht notwendigerweise Anwerber in den Ländern, aus denen Junge abreisten, das Internet könne diese Rolle sehr gut übernehmen.

“Das ist das wirklich Neue. Zudem darf man die Macht der Faszination nicht unterschätzen, die von den Videos im Internet ausgeht, auch bei Personen, die mit dem Koran eigentlich kaum etwas am Hut haben.”

Für Lathion stehen zum Zeitpunkt der Abreise jener Leute nicht spirituelle Motivationen im Vordergrund: “In den 1980er-Jahren, als junge Schweizer nach Zentralamerika reisten, um gegen den US-amerikanischen Imperialismus zu kämpfen, stellte man sich auch nicht die Frage, ob diese Christen seien”, erklärt er.

“Es sind junge Individuen auf der Suche nach einer Identität, die sich aus dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit, nach Wahrheit und dem Absoluten heraus für eine Sache engagieren.”

Sylvain Besson, Journalist bei Le Temps und Experte für Terroristen-Netzwerke, stellt die These der Selbstradikalisierung jedoch in Frage. Nach Angaben der Fachleute, die er konsultieren konnte, kann sich kein Freiwilliger aus dem Westen der Al-Kaida anschliessen, ohne dass er dort von Vertrauensleuten eingeführt wird, die teilweise in einschlägig bekannten Moscheen für ihre Anliegen werben.

Traumatische Erfahrung

2010 hatte Alain Pichard, ein Bieler Lehrer und Politiker, der in islamischen Kreisen gut integriert ist, öffentlich das Verschwinden von drei jungen Männern aus der Region angeprangert, die in radikale Koranschulen im Ausland gegangen waren.

“Der erste ist total fanatisiert zurückgekehrt. Der zweite, Abou Saad, ist im Irak umgekommen. Und der dritte, M.E.*, ein junger Kurde, ist aufgrund seiner Erfahrungen ernsthaft psychisch gestört”, sagt Pichard heute.

M.E. hat dem Lehrer im Detail erklärt, wie die künftigen Soldaten in einigen Koranschulen durch Rekrutierungs-Netzwerke der Dschihadisten angeworben worden waren.

Sylvain Besson schätzt, dass das “soziale, familiäre und kulturelle Umfeld bei der Konditionierung dieser jungen Menschen eine wichtige Rolle spielt”. Und es sei kein Zufall, dass in “fast zwei Dritteln der Fälle”, bei denen es in den vergangenen Jahren um islamistischen Terror mit einer Verbindung zur Schweiz ging, immer die gleiche Stadt den Rahmen abgegeben habe: “In Biel gibt es einen kleinen Kern radikal-islamischer Flüchtlinge”, bekräftigt Besson.

Über zehn Fälle

Bei den letzten zwei Fällen, die jüngst bekannt wurden, soll es sich nicht um Einzelfälle handeln: Im Lagebericht 2012 schreibt der NDB, europaweit sei eine “Zunahme dschihadistisch motivierter Reisebewegungen” festzustellen.

Der NDB kann zwar nicht mit Sicherheit sagen, dass solche Reisen aus der Schweiz zugenommen haben. Dem Nachrichtendienst seien aber “aktuell mehrere Personen mit früherem Wohnsitz in der Schweiz bekannt, die sich zum Zwecke der Teilnahme an Kampfhandlungen in einem Dschihadgebiet, nämlich in Somalia beziehungsweise Afghanistan/Pakistan”, aufhielten.

Zum ersten Mal erwähnt der NDB auch die Möglichkeit, dass gewisse militante Dschihadisten in die Schweiz zurückkehren könnten. Alain Pichard hingegen hat seinerseits in den vergangenen Monaten eine umgekehrte Tendenz beobachtet: “Heute macht uns das Phänomen von Kurden, die sich an der Seite der PKK engagieren, mehr Sorgen. So wurde ein junger Mann aus der Region im letzten Jahr von der türkischen Armee getötet.”

Nach Ansicht vieler Experten sollen der Tod von Osama Bin Laden, die Zerstörung von Al-Kaida-Netzwerken und der arabische Frühling in der Tat den Einfluss des auf Gewalt ausgerichteten Salafismus etwas eingedämmt haben. Dieser hatte viele junge Muslime aus dem Westen angezogen, auch solche, die zum Teil nach den Attentaten vom 11. September 2001 und den Kriegen der USA in Afghanistan und Irak zum Islam konvertiert waren.

Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) bleibt aber wachsam und schliesst das Attentats-Risiko auf Schweizer Boden nicht aus, sei es durch Personen, die im Ausland eine Terroristen-Ausbildung durchlaufen haben oder auch nicht.

“Das Risiko eines Falls Merah (der Franzose algerischer Herkunft, der im März in Toulouse sieben Personen umgebracht hat) existiert auch in der Schweiz. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass wir auf einer Insel leben”, erklärte Fedpol-Direktor Jean-Luc Vez am Westschweizer Radio RTS.

*Namen der Redaktion bekannt

In seinem Jahresbericht 2011, der am 21. Juni veröffentlicht wurde, hat das Bundesamt für Polizei (Fedpol) bekräftigt, dass mutmassliche Dschihadisten die Schweiz weiter als Basis nutzen, um islamistische Gruppen zu unterstützen, unter anderem, indem sie Propaganda-Material und Gewaltaufrufe ins Internet stellen, aber auch logistisch.

Das Fedpol hat den Kampf gegen extremistische Internetseiten intensiviert: Seit Anfang 2011 überwachen sechs Experten den Dschihadismus im Internet. Laut Fedpol wurden bereits verschiedene Vorermittlungen eingeleitet, die sich gegen radikale Internetseiten oder deren Betreiber richten.

Aufgrund von Informationen aus Deutschland wurde auch eine Untersuchung eröffnet gegen einen Schweizer, der zum Islam konvertiert ist: Es gab Hinweise darauf, dass er über das Internet einen Anschlag auf eine US-Einrichtung in Deutschland erörtert und Sprengstoffanschläge vorbereitet haben könnte. Mangels handfester Beweise blieb der Mann allerdings frei.

“Wohl in keinem anderen Bereich der extremistischen Ideologien wird das Internet so intensiv benutzt wie im Dschihadismus”, schreibt der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) in seinem Lagebericht 2012.

Gemäss NDB verbreiten der harte Kern der Al-Kaida und deren Netzwerke über das Internet antiwestliche Propaganda, um Muslime im Westen aufzufordern, für den Dschihad im Land ihres Wohnsitzes Anschläge zu verüben – und nicht mehr zwingend in eines der Kampfgebiete wie Afghanistan zu reisen.

Eine grosse Herausforderung für die Sicherheitsbehörden, da solche “isolierten Einzelkämpfer nur sehr schwer frühzeitig identifizierbar” sind.

Die direkte terroristische Bedrohung der Schweiz bleibt gemäss dem Lagebericht 2012 des NDB begrenzt, die Schweiz sei kein prioritäres, erklärtes Ziel dschihadistischer Gewalt.

Es wurden aber rund ein Dutzend Reisen in Dschihadisten-Lager festgestellt. Zudem gibt es erste Hinweise auf Rückkehrer von Reisenden in Sachen Dschihad.

Die präventive Überwachung von Radikalisierungs- und Rekrutierungs-Netzwerken bleibt laut dem NDB auch aufgrund der eingeschränkten Aufklärungsmöglichkeiten eine Herausforderung.

Derzeit dürfen die Geheimdienste laut Gesetz ohne besondere Bewilligung – und ohne begründeten Verdacht – keine Telefone abhören oder private Lokalitäten überwachen.

Damit der NDB in Zukunft besser gewappnet ist, Bedrohungen der Sicherheit zu verhindern, soll er mehr Möglichkeiten zur präventiven Überwachung erhalten.

Verteidigungsminister Ueli Maurer erklärte im Mai, bald einen Gesetzesentwurf zur Vernehmlassung vorzulegen.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft