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Der Kampf um Gleichstellung in Schweizer Kunstinstitutionen

“Wir kritisieren die Mehrheit von 85 Prozent weissen Männern”

Eine Statue mit einer Hulda Zwingli Maske
Bei einem Spaziergang durch die Zürcher Parks und Strassen hält Hulda Zwingli an, um Fotos zu machen, die sie später auf Instagram postet; für dieses Bild hat die anonyme Person eine ihrer Masken auf eine nackte weibliche Skulptur gesetzt. Hulda Zwingli

Seit über einem Jahr kämpft das Kollektiv Hulda Zwingli für mehr Gleichberechtigung in der Schweizer Kunstszene. Im Interview ziehen die Aktivistinnen eine erste Bilanz.

Wer denkt, dass die Kulturszene frei von Diskriminierung ist, der irrt. Künstlerinnen kämpfen darum, gesehen und anerkannt zu werden, so auch in der Schweiz. 2019 veröffentlichten SWI swissinfo.ch und das Schweizer Fernsehen erstmals eine Statistik zu diesem Problem. Inzwischen hat das Zentrum für Gender Studies der Universität Basel im Auftrag von Pro Helvetia eine vertiefte Studie erarbeitet.

Diese kommt zum Schluss, dass “die offensichtliche Unterrepräsentation und mangelnde Sichtbarkeit von Frauen im Kulturbereich dazu führt, dass der Schweiz ein bedeutendes Potenzial an Kompetenzen und Fähigkeiten sowohl im künstlerischen als auch im Managementbereich verloren geht”. 

Die Forschenden plädieren für vertiefte Erhebungen zu den Geschlechterverhältnissen im Schweizer Kulturbetrieb. Erst wenn die Wissenslücken geschlossen seien, könnten gezielt Massnahmen umgesetzt werden, so ein Fazit.  

  • 80 der 125 Kunstmuseen, die für die Umfrage 2019 kontaktiert wurden, haben uns ihre Daten für den Zeitraum 2008-2018 übermittelt.
  • Nur 26 % der Einzelausstellungen waren Künstlerinnen gewidmet.
  • Bei den Gruppenausstellungen betrug der Frauenanteil 31 %.
  • In den 7 meistbesuchten Museen lag der Anteil der Frauen zwischen 25 % und 6 %.
  • Nur 8 von 80 Museen hatten 50 % oder mehr weibliche Einzelausstellungen in ihrem Programm.

“Hulda Zwingli”, ein Kollektiv von rund einem Dutzend Frauen aus der Kulturszene, prangert die Versäumnisse an. Über ihr gleichnamiges Instagram-ProfilExterner Link teilen die Aktivistinnen, die anonym bleiben möchten, Beiträge, Fotos und Kommentare. Swissinfo.ch traf einige von ihnen zum Interview.

Portrait von Hulda Zwingli
Das Porträt von Hulda Zwingli, ursprünglich ein Gemälde des Schweizer Künstlers Hans Asper, dem das anonyme Kollektiv eine violette Brille hinzufügte. Hulda Zwingli

SWI swissinfo.ch: Wie und wann entstand “Hulda Zwingli”?

Hulda Zwingli: Die Recherchen von Swissinfo gaben uns damals den Startschuss. Denn was wir schon lange wussten, wurde endlich mit Zahlen belegt. Während des Frauenstreiks 2019 zogen wir durch Zürich und nahmen die Kunst im öffentlichen Raum unter die Lupe. Wir bastelten Kartonschilder und dokumentierten unsere Aktion mit Fotos. Ein Jahr später eröffneten wir einen Instagram-Account, um mehr Menschen zu erreichen.

Was bedeutet “Hulda Zwingli”?

Hulda ist der Vorname einer Schweizer Kunstsammlerin, Hulda Zumsteg, und Zwingli ist der Zürcher Reformator. Unser Kollektiv ahmt die alte konservative Mentalität Zürichs nach, allerding mit einem feministischen Einschlag. Wir wollten zeigen, dass wir aus Zürich stammen, dass wir ein potenzielles Publikum sind und dass wir die Versäumnisse der öffentlich finanzierten Institutionen als Direktbetroffene kritisieren – und nicht als irgendeine Aktivistengruppe. Wenn die Kritik von zu weit weg erschallt, wird sie kaum gehört.

Doch warum die Anonymität? Ist das nach zwei grossen Frauenstreiks und einer Rekordzahl von Frauen im Schweizer Parlament noch notwendig?

Die Kunstszene ist sehr konservativ und klein. Es bestehen viele Abhängigkeiten und die Leute haben oft mehrere Jobs in verschiedenen Bereichen, um über die Runden zu kommen. Nur wenige wagen es, den Status Quo zu hinterfragen. Aus diesen Gründen waren auch die “Guerrilla Girls”, unser amerikanisches Pendant der 80er-Jahre, anonym. Es gibt viele Personen in der Kunstwelt, die in Jurys, Museumsvorständen oder der Verwaltung sitzen. Offen Kritik üben und für etwas kämpfen ist in diesem System wirklich schwierig. Das ist zumindest unsere Erfahrung. Mit einem anonymen Auftritt in einem vielbeachteten Medium hat man eine gewisse Macht, weil die Leute nicht wissen, wer dahintersteckt.

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Unsere Erhebung damals konzentrierte sich auf die Sichtbarkeit von Künstlerinnen in Museen. Ihr Kollektiv fokussiert eher auf die Kunst im öffentlichen Raum. Warum?  

Bei Museen kann man sich entscheiden, ob man die Kunst sehen will oder nicht. Im öffentlichen Raum hingegen hat man keine Wahl. Und gerade dort stammen die meisten Werke von Männern.

2020 hat das Baltimore Museum of Art nur Kunstwerke von Frauen erworben und sogar einige Kunstwerke von Männern verkauft. Was halten Sie von dieser Aktion? Könnte sie von Schweizer Museen nachgeahmt werden? 

Das ist ein sehr radikaler, aber mutiger Schritt, der auch in der Schweiz Sinn machen würde. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Museum, das drei ähnliche Picassos hat, eines der Bilder verkaufen könnte. Das müssen aber Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker entscheiden, die sich mit dem Thema besser auskennen. Wir kritisieren nur die aktuelle Ankaufspraxis und die Ausstellungspläne. Was konkret mit den Sammlungen geschieht, sollte politisch breiter diskutiert werden.

Ist die Binarität zwischen Mann und Frau nicht ein wenig überholt, wo doch heute so viel über Geschlechteridentitäten diskutiert wird?

Es gibt keine Daten über die nicht-binäre Situation. Bei Pro Helvetia wird nun darüber gesprochen, eine Person zukünftig nach ihrem Geschlecht zu fragen. Das ist neu. Und wenn man 75 oder 95 Prozent weisse Männer hat – je nachdem, wo man hinschaut – dann hat man ein Ungleichgewicht, das man angehen kann. Hulda Zwingli respektiert die ganze Diversitätsdebatte, aber wir müssen auf einer Grundlage argumentieren, die quantifizierbar ist. Derzeit kritisieren wir vor allem die Mehrheit von 85 Prozent weissen Männern. 

Wie denken Sie über reine Frauenmuseen wie das Muzeum Susch oder ein reines Frauenprogramm, wie es das Musée des Beaux-arts in Le Locle 2019 anbot?  

Solche Projekte gibt’s seit den 70er-Jahren. Ein weiteres ist die FATart FairExterner Link, die sich ausschliesslich an Frauen, Lesben, inter-, nicht-binäre und Trans-KünstlerInnen richtet. Es ist wichtig und richtig, Frauen und unterrepräsentierte Gruppen in den Fokus zu stellen. Vielleicht verschwindet das Ungleichgewicht mit der Zeit und die Diskussionen werden überflüssig.

Hulda auf einem leeren Sockel
Ein Mitglied von Hulda Zwingli posiert auf einem leeren Sockel in Zürich. Hulda Zwingli

Hat sich die Situation in der Schweiz während den letzten Jahren verändert? Gibt es Unterschiede zwischen den Sprachregionen?

Wir haben beobachtet, dass sich etwa die Situation im Kunstmuseum Basel sehr zum Positiven verändert hat. Dasselbe gilt auch für Bern. Viele Museen geben sich wirklich Mühe. Beim Kunsthaus Zürich allerdings, das sehr viel Geld erhält, besteht noch Handlungsbedarf. Es existieren auch Bereiche, über die wir wenig wissen, zum Beispiel, was die Honorarvergabe aus grossen Kunst am Bau Projekte angeht. Auch sind die Sammlungen der Universitäten extrem unausgewogen. Im Kanton Tessin scheint sich die Situation nicht wirklich verbessert zu haben, aber es ist schwierig, dies ohne solide Daten festzustellen.

Was sollte getan werden, um die Sichtbarkeit von Künstlerinnen zu erhöhen?

Die Art und Weise, wie Kunstprojekte im öffentlichen Raum vergeben werden, muss sich ändern. Denkbar wäre ein Rotationsprinzip. Es sollten mehr Werke von Frauen gekauft werden, und diese sollten auch mehr Wechselausstellungen bestreiten können. Wir fordern zudem mehr Transparenz in Bezug auf Sponsoring und personelle Verbindungen. Wenn alles bekannt wäre, würde sich schnell viel verändern. Vielleicht sollte man auch befristete Verträge einführen. Jedenfalls sollten die bestehenden Quoten in den Institutionen angepasst werden. Ich denke auch, dass bestimmte Bedingungen für die Vergabe von öffentlichen Geldern gestellt werden sollten. Momentan passen sich die Begünstigten einfach dem Markt an oder wählen die profitabelste Lösung.  

Seit einem Jahr ist “Hulda Zwingli” auf Instagram aktiv. Sind Sie mit ihren Aktionen und der Resonanz zufrieden?

Oh ja! Wir sind schon fast überwältigt. Es gibt so viele Interaktionen und Feedback. Unser Instagram ist wie ein Forum oder ein Salon. Wir konnten unser Material in drei Ausstellungen zeigen, zwei in Zürich und eine in Schaffhausen. Die Zürcher Kulturagenda “Züritipp” hat über uns berichtet, ebenso die “Radical art review” und das Kunstmagazin “Ensuite”. Zudem wurden wir für eine internationalen Dokumentation befragt. Viele Leute schicken uns Inputs. Leider ist der Fortschritt nicht wirklich messbar: Die Diskussion läuft, aber das System verändert sich sehr langsam.

Ann Demeester ist die neue Direktorin des Kunsthauses Zürich. Was halten Sie von ihrer Wahl?

Wir sind optimistisch! Ann Demeester hat schon einige Ausstellungen zum Thema Gleichstellung geleitet. Sie wirkt innovativ und leidenschaftlich. Wir wissen nur nicht, inwiefern sie in diesem grossen halbprivaten Museum, das voller finanzieller Abhängigkeiten steckt, Unabhängigkeit bewahren kann. Ausserdem bestehen mehrjährige Verträge mit grossen, von Männern dominierten Privatsammlungen. Die hauseigene Sammlung besteht nur zu fünf Prozent aus Werken von Frauen. Es wird eine grosse Herausforderung sein, die Dinge zu verändern.

Lesen Sie hier unsere grosse Recherche von 2019:

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Schweizer Kunstmuseen zeigen häufiger die Kunst von Männern als von Frauen. Das ergibt eine Recherche von SWI swissinfo.ch und RTS.

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(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

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