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Tanz im Park – Das frohe Alter in Peking

Musizieren und Gesang. Christian Binz

Chinas Rentner und Rentnerinnen haben in ihrem Leben so Einiges durchgemacht. Trotzdem scheinen sie zuweilen um Einiges lebensfroher und rüstiger als ihre Pendants in der Schweiz.

“Unsere Alten haben einfach zu viel Energie”, bemerkt schmunzelnd ein mir unbekannter Student im Park des Himmelstempels in Peking. Ich stehe voller Bewunderung vor einer Gruppe rüstiger Rentnerinnen und Rentner, die sich zum Gesellschaftstanz unter schattigen Bäumen getroffen hat.

Wer schon einmal durch einen Pekinger Park geschlendert ist, weiss was der Student meint. Tagtäglich treffen sich auf den Grünflächen der Stadt fröhliche Seniorinnen und Senioren zu gemeinsamem Spiel und Tanz.

Das Treiben könnte bunter kaum sein. Frühmorgens dominiert noch Tai Qi (Schattenboxen) mit seinen runden harmonischen Bewegungen das Geschehen. Später kommen vermehrt Teekränzchen, Tanzgruppen und Karaoke-Sängerinnen auf den Plan.

Ab mittags wuselt es im Park dann in gut chinesischer Manier, und die Aktivitäten der vorwiegend älteren Semester reichen von Federball über Fitnessübungen bis hin zu Walzertanzstunden oder Konzerten von spontan zusammengewürfelten Volkslied-Kapellen.

Die Szenerie ist untermalt vom scherbelnden Klang übersteuerter Billiglautsprecher, denn richtig Stimmung kommt auch bei Chinas Senioren erst auf, wenn es “heiss und laut” (renao) ist.

Das Glück kommt mit dem Alter

 

Eine neue, breit angelegte Umfrage in China hat kürzlich gezeigt, dass die glücklichsten Menschen im Reich der Mitte über 60 Jahre alt sind. Dies ist einerseits verständlich, denn Chinas Senioren geniessen eine Sonderrolle: Die konfuzianische Tradition verlangt, dass Alten höchster Respekt gezollt wird, was viele jüngere Chinesen im Alltag auch tatsächlich geflissentlich tun.

Kaum jemand verbringt seinen Lebensabend im Altersheim, und viele junge Chinesen stöhnen über die Sturheit ihrer Grosseltern oder Eltern, geben ihnen aber gleichzeitig auch während der ganzen Woche selbstverständlich und gerne ihre Kinder zum Hüten ab.

Viele Senioren nutzen ihre gesellschaftliche Sonderstellung nach ihrer Pensionierung auch um Aktivitäten aufzunehmen, die unsereins zumindest zum Schmunzeln bringen.

Zwei Beispiele: Peking hat mehrere Winterschwimmclubs, in denen sich ältere Leute trotz klirrender Kälte täglich zum Schwimmen in den gefrorenen Seen und Weihern öffentlicher Parks treffen. Der Sport hat mehr als 30 Jahre Tradition, und rund 3000 ältere Semester beteiligen sich trotz eines polizeilichen Verbotes regelmässig daran. Eine rüstige alte Dame, die ich zufällig beim Schwimmen getroffen habe, ist überzeugt, dass das Winterschwimmen sie von einem Krebsleiden geheilt habe.

Ans Herz gewachsen ist mir auch eine Rentnertanzgruppe, die den Vorplatz einer gesichtslosen Shopping-Mall im Zentrum der Hauptstadt zum Leben erweckt. Die etwa zwanzigköpfige Gruppe  zeigt jeden Abend in bunten Kostümen eine neue Choreografie, häufig begleitet von einem ebenfalls jung gebliebenen und sehr euphorischen Orchester in unterschiedlichsten Formationen. Die Gruppe hat sich ein beachtliches Stammpublikum aufgebaut und ist nun sehr stolz, mit mir neuerdings auch einen ausländischen Jüngling dazuzählen zu können.

Glücklich trotz trauriger Geschichte

 

Auf der anderen Seite ist die Glückseligkeit der Rentner und Rentnerinnen in Peking aber auch sehr erstaunlich, denn viele von ihnen wurden von der Geschichte nicht eben verschont. Die meisten haben Weltkriege, Armut, Hungersnöte, die geballten Wirren der kommunistischen Ära unter Mao Zedong und danach plötzlich einen präzedenzlosen Wirtschaftsboom mit all seinen gesellschaftlichen Umbrüchen miterlebt.

Kaum eines ihrer traumatischen Erlebnisse wurde je historisch aufgearbeitet, und so haben fast alle von ihnen Geschichten auf Lager, die sie lieber nicht erzählen wollen, schon gar nicht ihren eigenen Enkelkindern.

Gleichzeitig hat sich China in solcher Windeseile um sie herum entwickelt, dass ihre sozialistischen Volkslieder im Herzen Pekings, dem Zentrum des korrupten Kampfkapitalismus, einen schon fast surrealen ironischen Unterton erhalten.

Die energiegeladenen, tanzenden und singenden Rentner Chinas erfüllen mich immer wieder aufs Neue mit Ehrfurcht und Staunen. Ältere Leute in der Schweiz haben kaum vergleichbare Krisensituationen durchgemacht und leben in einem hervorragend ausgebauten Sozialstaat mit unzähligen schönen Grünflächen und guten Tanzschulen.

Trotzdem herrscht in unseren Parks gespenstische Stille, und niemand tanzt. Unsere Seniorinnen und Senioren haben im Vergleich mit China beträchtlichen Nachholbedarf.

Immer häufiger reisen auch junge Leute für längere Zeit ins Ausland, sei das zum Studieren, Forschen, für ein Stage oder zum Arbeiten.

Zu ihnen gehört auch Christian Binz, der gegenwärtig in Beijing forscht. 

Bis im Sommer 2011 berichtet er für swissinfo.ch über seine Erfahrungen und Beobachtungen in Beijing.

Christian Binz ist 27 Jahre alt. Er hat an der Universität Bern Geographie mit den Nebenfächern Volkswirtschaft, Philosophie und Chinesisch studiert.

Für seine Masterarbeit untersuchte er das chinesische Innovationssystem für dezentrale Wasserrecycling-Technologie.

Aus dieser Arbeit entwickelte sich seine Doktorarbeit, ein Kooperationsprojekt zwischen der Eawag (Wasserforschungsinstitut an der ETH) und der Chinesischen Akademie der Wissenschaften.

Seit September 2010 lebt er in Peking und arbeitet für sein Projekt, das untersucht, ob China in seinem urbanen Wassermanagement zu nachhaltigeren Lösungen finden könnte.

Christian Binz war insgesamt schon fünfmal in China und hat weite Teile des Landes bereist.

Nebst Reisen ist sein grösstes Hobby die Musik, insbesondere seine Band Karsumpu, wo er Mundharmonika, Piano und diverse “Binztrumente” spielt (www.karsumpu.ch).

Nebenbei ist er begeisterter Filmer, Sportler und Hochseesegler.

Nebst seiner Muttersprache Deutsch spricht er Englisch, Italienisch, Französisch und Chinesisch.

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