Sechs Grafiken für ein besseres Verständnis der Migration
Jeden Tag überschreiten tausende Flüchtlinge und Migranten die europäischen Grenzen auf der Suche nach Schutz oder einem besseren Leben. Eine beispiellose Herausforderung für die Europäische Union, die seit Monaten um eine gemeinsame und solidarische Lösung ringt. Welche Länder sind am meisten betroffen? Und welchen Einfluss hätte die Einführung obligatorischer Quoten, wie sie die EU-Leader wollen? swissinfo.ch liefert in einer Reihe von interaktiven Grafiken die entsprechenden Antworten.
Noch nie haben so viele Flüchtlinge versucht, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, wie in den ersten acht Monaten des Jahres 2015. Rund 432’000 Menschen sind seit Jahresbeginn über diese Route nach Europa geflohen. Im Vergleich zum ganzen Jahr 2014 hat sich die Zahl der an den europäischen Küsten eintreffenden Flüchtlinge demnach bereits mehr als verdoppelt.
Gemäss dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) handelt es sich vor allem um schutzbedürftige Personen, die aus den Kriegsländern Syrien und Afghanistan geflohen oder der Diktatur in Eritrea entkommen sind.
Mehr als 660’000 Asylgesuche wurden im letzten Jahr in Europa gestellt. Die Zahl der Gesuche gleicht sich somit einem Niveau an, das zuletzt während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren erreicht worden war.
Die Situation ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. Während Deutschland bis Ende Jahr bis zu 800’000 Asylsuchende erwartet – vier Mal so viele wie 2014 – spricht in der Schweiz das Staatssekretariat für Migration von 29’000 Gesuchen für 2015 (2014 waren es 23’770). Eine Zahl, die wesentlich tiefer liegt, als jene von 1991 und 1999, als über 40’000 Gesuche gestellt wurden, wie die folgende Grafik zeigt.
Es ist kein Zufall, dass die Route über das Mittelmeer zur wichtigsten Passage nach Europa geworden ist. Denn die Europäische Union (EU) hat in den letzten Jahren an ihren Aussengrenzen aufgerüstet und Barrieren errichtet. Hohe Zäune und Stacheldraht trennen Marokko von der spanischen Exklave Ceuta (8 km Länge), die Türkei von Griechenland (12,5 km) oder die Türkei von Bulgarien (30 km). Gemäss «The Migrants Files», einem Konsortium von Journalisten, kostete der Bau dieser Grenzsicherungsanlagen total 77 Millionen Euro. Doch sie konnten den Fluss von Migranten nicht aufhalten.
Gegenüber der aktuellen Flüchtlingswelle nehmen die europäischen Länder unterschiedliche Haltungen ein. Deutschland hat vorübergehend seine Grenzen geöffnet und einen Appell für mehr Solidarität mit den Migranten lanciert. Berlin hat zudem die Rückschaffung von syrischen Asylsuchenden in andere europäische Länder ausgesetzt und stellt so das Abkommen von Dublin in Frage. Gemäss diesem sollte das erste erreichte Transitland – in erster Linie Italien und Griechenland – die Migranten empfangen und registrieren. Eine wichtige symbolische Weichenstellung, zumal Deutschland 2014 jenes Land war, das die meisten Migranten zurückschickte, gefolgt von der Schweiz.
Andererseits zeigen sich die osteuropäischen Länder resistent gegenüber dem Prinzip der Aufnahme. Ungarn, wo in den letzten Wochen täglich tausende Flüchtlinge ankamen, versuchte primär, seine Grenzen zu schliessen und danach die Migranten an Bahnhöfen festzusetzen. Die Slowakei erklärte sich bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, sofern sie Christen sind. Bulgarien hat seine Armee für Grenzpatrouillen aufgeboten.
In den letzten Monaten haben mehrere europäische Länder erklärt, ihre Grenzen weiter befestigen und die Grenzkontrollen verschärfen zu wollen. Ungarn hat eine 175 Kilometer lange Stacheldraht-Mauer entlang der Grenze zu Serbien errichtet, während Bulgarien seine Grenzbefestigungen entlang der türkischen Grenze um 130 Kilometer verlängern will.
Auch in der Schweiz forderte die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), die wählerstärkste Partei des Landes, das Militär an die Grenze zu schicken. Im Tessin verlangte die Lega dei Ticinesi, die Grenze nach Italien zu schliessen.
Diese Absichten werden von Menschenrechts-Organisationen scharf kritisiert. Die folgende Grafik zeigt, dass die Vorschläge nicht immer von Ländern kommen, die am stärksten von den Migrationsflüssen betroffen sind.
Mit einer wahren Asyllotterie konfrontiert, sucht die EU seit Jahren nach einer solidarischen und tragfähigen Lösung für ihre Mitgliedsländer.
Hunderte von Flüchtlingen stranden tagtäglich in Italien und Griechenland. Dabei bleiben für diese Flüchtlinge Deutschland und Schweden die bevorzugten Zielländer. Viele Flüchtlinge vermeiden es, sich in den Mittelmeer-Ländern durch die Behörden erfassen zu lassen, wie es das Abkommen von Dublin vorschreibt. Länder wie Italien drücken gerne selber ein Auge zu, weil sie nicht mehr in der Lage sind, diesen Zustrom zu bewältigen.
Verschiedene EU-Länder, angeführt von Deutschland, verlangen mit lauter Stimme eine Revision des Dublin-Abkommens und eine Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedsländer. Betroffen wäre auch die Schweiz. Der Vorschlag sieht die Einführung von festgelegten Quoten vor – in Abhängigkeit von Bruttoinlandprodukt, Bevölkerungszahl und Arbeitslosenrate – und mögliche Sanktionen für widerspenstige Länder.
Wer würde bei der Anwendung dieser neuen Strategie zum Gewinner, wer zum Verlierer? Die folgende Grafik zeigt die 2014 eingereichten Asylgesuche in Abhängigkeit von den in Brüssel diskutierten Kriterien.
Die Chancen auf eine Anerkennung als schutzbedürftiger Flüchtling fallen je nach Antragsland unterschiedlich aus, weil jedes Land eigene Kriterien anwendet. Im Jahr 2014 erhielt fast die Hälfte der Antragsteller (47 Prozent) einen positiven Bescheid. Gegenüber 2013 bedeutet dies einen Anstieg um 12 ProzentpunkteExterner Link*.
Die Schweiz gehört zu den Ländern mit der höchsten Anerkennungsrate für Asylgesuche oder für die Erteilung einer provisorischen Aufnahmebewilligung – 70,5 Prozent gemäss Eurostat**. Die absolut höchste Anerkennungsrate kennt Bulgarien (94,1 Prozent), während Ungarn mit 9,4 Prozent das Schlusslicht bildet. Dort kam der überwiegende Teil der Asylbewerber aus dem Kosovo, das als sicheres Herkunftsland gilt.
In Europa bekundet eine Reihe von Ländern grosse Mühe, den Zustrom von Migranten zu steuern. In der Bevölkerung nehmen Zeichen von Intoleranz zu. Gemäss UNHCR leben 86 Prozent der Flüchtlinge in einem Entwicklungsland (12,4 Millionen Ende 2014). Vier Millionen Syrer fanden Unterschlupf in einem Nachbarland. Im Libanon stellen Flüchtlinge und Asylbewerber mittlerweile einen Viertel der Bevölkerung. In keinem anderen Land der Erde ist der Anteil von Flüchtlingen pro eine Million Einwohner höher als im Libanon – 12 Mal höher als in Schweden.
Die folgende Grafik zeigt die Gesamtzahl der vom UNHCR erfassten Flüchtlinge und Asylbewerber pro Million Einwohner oder pro Dollar des Bruttoinlandprodukts***.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde am 22. Juli 2015 veröffentlicht und am 14. September 2015 aktualisiert.
Anmerkungen:
* Die Erhöhung der Anerkennungsrate hängt teilweise mit der Herkunft und der Charakteristik der Asylbewerber zusammen, aber auch mit einer Veränderung in der von Eurostat gewählten Erhebungsmethode. Seit 2014 werden so genannte Dublin-Fälle (Personen, die bereits in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt haben) nicht mehr berücksichtigt, um zu vermeiden, dass Asylbewerber mehrmals gezählt werden.
** Die Schweiz spricht offiziell von einer Anerkennungsrate von «Schutzbedürftigen» von 58,3 Prozent im Jahr 2014. Dabei sind Flüchtlinge sowie provisorisch aufgenommene Personen mitgerechnet. Wie erklärt sich der grosse Unterschied zur Erhebung von Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union, das von einer Anerkennungsrate von 70,5 Prozent spricht? Die Antwort ist einfach: Im Unterschied zu Eurostat berücksichtigt die Schweiz in ihrer Zählweise auch die so genannten Dublin-Fälle sowie Personen, auf deren Asylanträge nicht eingetreten wird. Im Unterschied zur EU wertet die Schweiz «positive Entscheide» nur in Bezug auf die definitive Anerkennung von Asylgesuchen (25,6 Prozent im Jahr 2015). Die Fälle von vorläufigen Aufnahmen werden unter «negativen Entscheiden» verbucht.
*** Die für diese Grafik verwendeten UNHCR-Statistiken weichen von den Eurostat-Erhebungen ab, welche für die anderen Grafiken verwendet wurden. Eurostat berücksichtigt einzig die Zahl der in einer bestimmten Zeitspanne gestellten Asylanträge, während UNHCR die Gesamtzahl vorliegender Asylanträge erfasst, auch pendente Anträge aus Vorjahren (vor 2014).
(Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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