Ertrunkene Flüchtlinge: «Europa muss handeln»
Die europäische Strategie, Flüchtlinge von ihrem Vorhaben abzubringen, über das Mittelmeer Europa zu erreichen, ist zum Fiasko geworden. Das schreibt die Schweizer Presse nach dem jüngsten und wohl schwersten Flüchtlingsdrama mit hunderten Toten. Europa müsse mit seinem "zynischen Kalkül" aufhören.
In der Nacht zum Sonntag kam es vor der Küste Libyens zu einer der schwersten Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer. Möglicherweise verloren um die 700 Menschen ihr Leben, als ihr Boot kenterte.
Nach dem bislang grössten Flüchtlingsdrama im Mittelmeer sei wieder einmal «die Zeit der Empörung und der Anklagen. Doch es reicht nicht, anzuklagen und sich zu empören», schreiben Tages-Anzeiger und Der Bund. «Es wäre wichtiger, ehrlich über die Optionen zu reden. Es gibt nur eine Möglichkeit, um das Sterben auf dem Mittelmeer sofort zu stoppen. Die EU-Staaten (und die Schweiz) müssten gemeinsam Fährverbindungen oder Luftbrücken zu den Anrainerländern einrichten.»
Doch dies sein eine «gänzlich unrealistische» Möglichkeit, das grosse Sterben im Mittelmeer zu beenden: «Die Folge wäre eine Völkerwanderung. Und in Europa wäre ein Volksaufstand garantiert.»
Der Kommentator kommt zum Schluss, dass alle realistischen Optionen «die Misere nur mehr oder weniger eindämmen oder lindern helfen» können. «Das ist die ehrliche Antwort auf die lauten Anklagen und die Empörung nach dem Flüchtlingsdrama.»
Auch Schweiz in der Kritik
«Das Mittelmeer wird zu einem Massengrab», schreibt die Aargauer Zeitung. «Trotz ihrer Vorhersehbarkeit trifft die Tragödie die EU-Länder denkbar schlecht vorbereitet. Die Kritik richtet sich auch an die Schweiz, die als Mitglied der Schengen- und Dublin-Verträge komplett in das Grenz- und Asylsystem der EU eingebunden ist.»
Krisentreffen
Nach der neuen Tragödie im Mittelmeer findet am 20. April in Luxemburg ein gemeinsames Krisentreffen der EU-Aussen- und Innenminister zur Flüchtlingskrise statt.
Die Innenminister würden kurzfristig am Nachmittag (15.00 Uhr) zu einer Sitzung der Aussenminister in Luxemburg hinzukommen, teilte eine Sprecherin des Rates mit.
Europa müsste laut der AZ auf zwei Ebenen auf das Flüchtlingsdrama antworten: «Einerseits muss sie den Flüchtlingen in der akuten Notlage beistehen, andererseits muss sie eine neue Asylpolitik entwickeln, die mittelfristig möglichst verhindert, dass überhaupt noch Menschen in überbelegten und maroden Booten nach Europa zu reisen versuchen.»
Auf beiden Ebenen sei die bisherige Antwort der EU und ihrer Mitgliedsländer jedoch «ungenügend». Es fehle bis heute an Anzeichen dafür, «dass die EU-Mitgliedsländer und die Schweiz bereit sind, eine wirklich neue Asylpolitik einzuschlagen – auch weil sie nicht wissen, welche es denn sein soll. Bis sie sich zusammenraufen, wird das Elend dieser Ohnmacht mit unverminderter Brutalität andauern.»
Absetzung von «Mare Nostrum» bedauert
Das nächste Flüchtlingsdrama komme bestimmt, «die Flucht-Saison hat erst begonnen», schreibt der Blick. «Diese Tragödien sind nicht Schicksal. Sie könnten verhindert werden. Das alleingelassene Italien hat im Herbst die Rettungsmission ‹Mare Nostrum› eingestellt. Um Geld zu sparen, abzuschrecken. Mit schrecklichen Folgen: Es gibt nicht weniger Flüchtlinge. Nur weniger, die überleben.»
Der «tödliche Fehler», die Operation «Mare Nostrum» durch die Grenzschutzoperation «Triton» zu ersetzen, dürfe sich nicht wiederholen, meint die Berner Zeitung. «Die Annahme, Flüchtlinge und Schlepper würden die Überfahrt dann nicht mehr wagen, hat sich als falsch erwiesen.»
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Zur «Ehrenrettung der Politik» müsse aber gesagt werden, «dass schon an Ideen gearbeitet wird, das Sterben zu stoppen. Der letzte Wille aber fehlt. Die EU-Staaten, daheim mit Pegidas, Ukips, Fronts Nationals und anderen Ausländerfeinden konfrontiert, schrecken vor Mitmenschlichkeit zurück – eine Schande».
Europa in der Pflicht
Bei den Betroffenheits-Bekundungen der letzten Tage klinge ein schlechtes Gewissen mit – «und viel Heuchelei», schreibt der Kommentator von Neue Luzerner Zeitung, St. Galler Tagblatt und Südostschweiz. «Denn bisher sind den ‹Nie wieder›-Parolen auf europäischer Ebene keine Taten gefolgt.»
Die jüngste Entwicklung habe gezeigt: «Die Verweigerung von Hilfe in Seenot hält die Flüchtlinge nicht davon ab, sich auf ihre lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer zu begeben. Das zynische Kalkül geht nicht auf.»
Solange die Ursachen der Flucht in den Herkunftsländern nicht beseitigt seien und das politische Chaos in Libyen anhalte, gebe es nur eine Lösung: «Die (Wieder-)Aufnahme eines Seerettungsprogramms nach dem Vorbild von ‹Mare Nostrum›, ergänzt durch eine rigorose Bekämpfung der Schlepperbanden. Alles andere ist Augenwischerei.»
«Europa muss das Feld der Wörter verlassen, um aktiv zu werden, und einen mit allen Alliierten – darunter auch die Schweiz – konzertierten Plan auf die Beine stellen», schreibt 24 heures.
«Es muss die logistische und finanzielle Leitung einer Realität organisieren, der es nicht entkommen kann. Es ist legitim, die illegale Einwanderung zu bekämpfen», doch die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Plans namens ‹Triton› bedeute, «zu akzeptieren, dass sich solche Tragödien ohne Ende wiederholen».
Afrika in der Pflicht
Die Basler Zeitung ortet ein «Versagen auf beiden Seiten». Nicht nur Europa mache Fehler. «Die eigentlichen Gründe für die immer grösseren Flüchtlingsströme liegen nicht in einer antiquierten Politik des Westens. Sie sind vielmehr Symptome einer Krankheit, die in den schlecht regierten Staaten Afrikas und des Nahen Ostens wurzelt. Viele der afrikanischen Flüchtlinge, die jetzt über das Mittelmeer fliehen, kommen aus Somalia, wo es seit bald 25 Jahren keinen funktionierenden Staat mehr gibt, und aus Eritrea, wo ein Stalinist die Menschen tyrannisiert.»
Die «Barriere» der von Europa bezahlten Diktatoren sei «seit dem arabischen Frühling verschwunden». «Um eine weitere Eskalation zu verhindern, müssten vor allem die Zustände vor Ort verändert werden. Wichtig wäre zum Beispiel, die Bevölkerungsexplosion in Afrika zu stoppen, die alle noch so kleinen Fortschritte wieder auffrisst.»
In Afrika müsse «durch gezielte Ausbildungsprogramme und vor allem mehr Handel» die Eigeninitiative gestärkt und die Abhängigkeit von der Entwicklungshilfe reduziert werden. «Erst wenn Afrika eine eigene interne Dynamik schafft und die dazu notwendigen politischen Institutionen aufbaut, wird der Druck auf Europa wohl nachlassen.»
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