Bedienungsanleitung für die direkte Demokratie
In einem Land, in dem die Bürger jährlich mehrere Male an die Urne gerufen werden, sind die Themen zuweilen komplex, über die sie abstimmen. Mit dem Ziel, das Verständnis der Vorlagen zu fördern, veröffentlicht die Regierung vor jeder Abstimmung eine Broschüre mit den Pro- und Kontra-Argumenten. Das führte zuweilen zu Kritik. Für die Befürworter ist die Broschüre in einer direkten Demokratie jedoch unverzichtbar.
Die «Abstimmungserläuterungen des BundesratesExterner Link» werden den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern jeweils drei Wochen vor einem Abstimmungstermin nach Hause geschickt. Als Beispiel finden Sie hier die Erläuterungen zur letzten nationalen Abstimmung vom 14. Juni 2015Externer Link. Zuständig für die Publikation ist die Bundesverwaltung. «Jeder soll das Thema einer Initiative oder eines Referendums verstehen können, auch wenn er sich bisher nicht damit befasst hat», sagt Thomas Abegglen, der die Broschüre während mehr als zehn Jahren koordiniert hat.
Offizielles Dokument
Die Broschüre im gefalteten A4-Format hat ein rotes Deckblatt und erinnert auch durch die Schrift und das Schweizer Wappen an den Schweizer Pass. «Damit wollen wir darauf hinweisen, dass es sich um ein offizielles Dokument handelt», sagt Abegglen und bezeichnet die Broschüre als einmalig: «Ich kenne weltweit kein vergleichbares Beispiel einer Anstrengung, um die Bürger zu informieren.
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Die Anzahl Seiten hängt von der Zahl der zur Abstimmung gelangenden Vorlagen ab, doch die Form bleibt immer dieselbe. Jede Vorlage wird vorgestellt und von den Abstimmungsempfehlungen der Regierung und des Parlaments begleitet. Dazu kommen eine Zusammenfassung und ein detaillierter Text zu jeder Vorlage, und schliesslich folgen die Argumente der Gegner und diejenigen des Bundesrates.
Der formal strenge Aufbau entspricht den gesetzlichen Vorgaben. «Die Regierung hat den verfassungsmässigen Auftrag, den Wählern ihre Ansicht darzulegen und ansonsten lediglich Erläuterungen zur Vorlage, die zur Abstimmung kommt, abzugeben», sagt Abegglen. «Zudem enthält die Broschüre nicht nur die Meinung der Regierung, sondern auch des Initiativ- oder Referendumskomitees, die zudem ihre Meinung auch über andere Kanäle wie Plakate oder mit Kampagnen auf der Strasse kundtun können.»
Die erste Broschüre wurde 1977 produziert. Bis heute kommt der Wähler kaum um sie herum. Laut den Umfragen des Instituts Vox beträgt der Beachtungsgrad bei komplexen Themen 90% und immerhin 60% für die Themen, die in der Öffentlichkeit breit diskutiert werden.
Bemühen um Neutralität
Zuweilen führen die Themen, die zur Abstimmung kommen, zu Kontroversen, so zum Beispiel die Anti-Minarett-Initiative im Jahr 2009. Es gibt auch weniger sensible Themen, aber auch hier ist das Bemühen um Neutralität dasselbe. «Zahlreiche Abteilungen der Bundesverwaltung sind am komplexen Realisierungs-Prozess beteiligt», so Abegglen.
Die Arbeiten beginnen jeweils sechs Monate vor dem Abstimmungstermin. In einer ersten Etappe schreibt das zuständige Departement einen Entwurf. Die Vorschläge werden anschliessend an drei Sitzungen diskutiert, an denen Vertreter der Regierung, Kommunikations-Spezialisten, die Bundeskanzlei und die Übersetzungsdienste teilnehmen.
Die Herausforderung besteht darin, kurz und bündig und verständlich auf alle Frage, welche die Bürger sich stellen, zu antworten und das unabhängig von ihrem Bildungsgrad und ihren Kenntnissen. «An diesen Sitzungen spielen wir oft die Rolle des Bürgers, stellen den Spezialisten Fragen und versuchen dabei eine möglichst klare Sprache zu finden», erklärt Abegglen.
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Der Genauigkeit der publizierten Informationen gilt ein besonderes Augenmerk. «Alles, inklusive Zahlen und Grafiken, muss überprüft und verifiziert werden», sagt der ehemalige Koordinator. Der fertige Text wird dann dem zuständigen Minister vorgelegt, der Änderungen beantragen kann. Schliesslich wird die definitive Version vom Gesamtbundesrat genehmigt.
Tiefe Kosten
Nach der Genehmigung werden die Texte in die Druckerei geschickt. Laut den Angaben der Bundeskanzlei belaufen sich die Produktions-Kosten der 5,4 Millionen Exemplare einer Broschüre auf 507’000 Franken. Ein Exemplar kostet also 9,4 Rappen.
Auch in Zukunft wird der Bund trotz den neuen Technologien die gedruckte Version der Broschüre beibehalten. Ein Verzicht auf die gedruckte Version stehe nicht zur Diskussion, sagt Abegglen. «Es gibt bereits eine elektronische Version. Das Gesetz verpflichtet uns, das Bundesbüchlein jedem Bürger und jeder Bürgerin zur Verfügung zu stellen, also auch Personen, die keinen Computer besitzen oder die sich ihre politische Meinung nicht vor einem Bildschirm bilden wollen.»
Auch Menschen mit einer Sehschwäche haben Zugang zur Information. Die elektronische Version gibt es in einer entsprechenden Variante. Die gedruckte Version wird ebenfalls von privaten Firmen so aufbereitet, dass sie dank grösserer Schrift leichter gelesen werden kann. Schliesslich gibt es auch eine gesprochene Version für Blinde.
Die Behörden diskutieren im Weiteren über Möglichkeiten, die Sprache der Broschüren zu modernisieren und für die Jungen attraktiver zu machen. Dabei stossen sie jedoch aufHindernisse. «Es gibt Diskussionen in diese Richtung, aber das Gesetz lässt uns keinen grossen Spielraum. Es gibt präzise Vorschriften», sagt Abegglen. Dennoch seien technische Innovationen bei der elektronische Version möglich. «Wir haben damit begonnen, Videos, einfache Graphiken oder zusätzliche Texte für ein spezifisches Publikum wie die Jungen zu integrieren.»
Fehler dennoch nicht ausgeschlossen
Trotz all dem Aufwand sind Fehler nicht ausgeschlossen. Im Jahr 2011 qualifizierte das Bundesgericht die Broschüre zur Unternehmenssteuerreform als «fehlerhaft» und «inkompetent». 2014 wurde der französische Text zur Ecopop-Initiative nicht ganz korrekt übersetzt.
In solchen Fällen korrigiert die Bundeskanzlei die Texte umgehend. «Wir publizieren eine öffentliche Mitteilung und nehmen an der elektronischen Version die entsprechenden Korrekturen vor», sagt Abegglen.
Kritiken, die den Verdacht hegen, die Texte würden von Interessenkreisen beeinflusst, weist Abegglen zurück: «Wir wissen, dass gewisse Komitees PR-Büros engagiert haben, aber ich schliesse jeglichen Einfluss von aussen aus, was unseren Verantwortlichkeitsbereich betrifft.
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