Die Schweiz wird zum Briefwahl-Paradies
Der Gang an die Urne war einmal – in der Schweiz stimmen heute geschätzt über 90% der Teilnehmenden brieflich ab. Wie wirkte sich das Coronavirus auf den Super-Sonntag vom 27. September aus? Wir haben in Oberwinterthur die Probe aufs Exempel gemacht.
Aus Gewohnheit schreiben wir Journalisten und Journalistinnen viermal pro Jahr Sätze wie «Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger entscheiden am Sonntag an der Urne über die Volksinitiative X oder das Referendum Y.»
Denn in der direkten Demokratie Schweiz entscheidet das Volk vier Mal pro Jahr über Sachfragen. Wie gerade geschehen mit dem klaren Nein zur Begrenzung der Einwanderung und dem hauchdünnen Ja für neue Kampfjets.
Aber das mit der «an der Urne» ist irreführend – weil überholt: Denn heute treffen rund 90% der Stimmzettel schon vor dem Abstimmungssonntag per Post bei den Behörden ein.
Schlummernde Resultate
Die Ergebnisse stehen also gewissermassen schon vorher fest – sie schlummern in Postbüros und bei den Gemeindebehörden im ganzen Land. Was dann am Samstag und Sonntag stattfindet, ist die «Aktion der direkten Demokratie» – das Öffnen der Umschläge und das Auszählen der Stimmen.
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Auslandschweiz fühlt sich betrogen
Der Super-Sonntag war der erste Abstimmungssonntag seit Ausbruch der Coronakrise. Viele Behörden empfahlen deswegen ausdrücklich, die Stimme per Post abzugeben.
Wir waren am Samstag in Oberwinterthur, einem Wahlkreis der Stadt Winterthur im Kanton Zürich. Jürg Billwiller, der Leiter des Stimmlokals, wartet bereits auf sein Team. Es kommen rund 30 freiwillige, aber bezahlte Helferinnen und Helfer. Mit gebotenem Abstand setzen sich je zu zweit an einen Tisch im Saal des evangelischen Kirchgemeindehauses. Dann beginnen sie ihr Tageswerk.
Routine im Stimmlokal
Von Dramatik keine Spur, dafür herrscht umso mehr Pflichtbewusstsein. In den Zweierteams überprüfen sie zuerst, ob alle Stimmausweise, die in den Kuverts enthalten waren, von den Stimmenden auch tatsächlich unterschrieben worden sind. Fehlt die persönliche Unterschrift, ist die Stimme ungültig – da kennt das System kein Pardon.
Immer eine Person ordnet und sortiert die Stimmzettel, während die andere Person zuschaut und genau kontrolliert, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
Das so genannte Vier-Augen-Prinzip soll sicherstellen, dass richtig gezählt wird und kein Betrug stattfindet. Einige plaudern, andere tragen Kopfhörer, alle tragen Masken.
In Oberwinterthur standen sieben Entscheide an – fünf auf nationaler Ebene sowie zwei kantonale Vorlagen.
Sortieren, kein Zählen!
«Aber keine Auszählung!», mahnt der Chef. Denn es ist erst Samstag, die eigentliche Auszählung muss bis Sonntagmittag warten, wenn Billwiller sein Stimmlokal um Punkt zwölf Uhr schliesst. Erst danach dürfen die Stimmzettel ausgezählt werden. Dies geschieht von Hand oder mit einer Maschine zum Zählen von Banknoten.
Vorerst sortieren die Helfenden alle Zettel aus, die ungültig sind, weil nicht echt oder weil der Absender Schimpfwörter darauf geschrieben hat. Die leer eingelegten Zettel wandern auf eine separate Beige. Und dann ist es so weit: die mit Ja und Nein ausgefüllten Stimmzettel werden auf Stapel gelegt.
Am Boden warten schwere Plastikkisten, während auf der umgerüsteten Bühne des Kirchgemeindesaals Stapel liegen, die je 100 Stimmzettel enthalten
Nun ist Pause. Nach zehn Minuten geht es bereits wieder an die Arbeit. Alles geht sehr ruhig und geordnet vor sich.
Wie viele Stimmen hat Billwiller selber hier im Laufe der Jahre abgegeben? Viele, sagt er, viele, an die er sich nicht mehr erinnere. Zur Einordnung: In der Schweiz kann gut und gerne auf 4000 Urnengänge im Leben kommen, wer ein aktiver Stimmbürger oder eine sehr pflichtbewusste Stimmbürgerin ist. Die Zahl umfasst alle Abstimmungen auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene.
Gut geöltes System
Jürg Billwiller und sein Team sind eines von Tausenden von Rädchen im gesamtschweizerischen System, das einen reibungslosen Ablauf der «Abstimmungssonntage» ermöglicht.
So ging Abstimmen und Wählen in der Vor-Corona-Zeit (Galerie)
Dank der guten Vorbereitung und Sortierung geht es dann schnell voran: Nur Minuten nach Sonntagmittag tröpfeln die ersten Ergebnisse ein. Die Resultate liegen meistens innerhalb weniger Stunden vor – eine Panne ausgenommen.
Das ganze Verfahren einer Abstimmung beginne etwa vier Monate vorher, sagt Stephan Ziegler, Leiter der Wahl- und Abstimmungsbehörde im Kanton Zürich, dem bevölkerungsreichsten Kanton der Schweiz. Die Kantone – sie sind es, die in der Schweiz für die logistische Organisation und die Durchführung der Wahlen und Abstimmungen zuständig sind – erhalten von den Bundesbehörden die Liste der nationalen Abstimmungsvorlagen. Darauf beginnt die Erstellung der Informationsbroschüren für die Bürgerinnen und Bürger.
Acht Wochen später starten die Gemeinden mit dem Druck der Stimmzettel gemäss Stimmregister. Drei bis vier Wochen vor dem Wahltag ist das Material in den Briefkästen der Stimmberechtigten. Schliesslich haben die Bürger praktisch bis zur letzten Minute Zeit, um sie zurückzuschicken oder in den Briefkasten der Gemeindeverwaltung einzuwerfen.
«Es ist ein sehr etabliertes Verfahren», sagt Ziegler. «Es gibt keine Vorbedingungen für die Stimmabgabe per Post – Sie haben die Unterlagen einfach im Briefkasten».
Briefwahl funktioniert gut – im Inland
Die Briefwahl wurde in der Schweiz Ende der 1970er-Jahre eingeführt. Damit war die Hoffnung verbunden, die niedrige Wahlbeteiligung zu erhöhen. Seit 1994 ist die Briefwahl als offizieller Kanal im Schweizer Recht verankert. Es ging aber bis 2006, bis alle 26 Kantone funktionierende Systeme eingeführt hatten.
«Die Briefwahl funktioniert gut, deshalb gibt es kaum Diskussionen darüber», sagt Uwe Serdült, Politikwissenschaftler Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA). Nach Angaben der Kantone stimmen heute rund 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger per Post ab, einige Kantone haben schon Zahlen bis zu 97 Prozent gemeldet. So der Aargau 2017.
In den ersten Jahren der brieflichen Stimmabgabe habe es Sicherheitsdebatten gegeben, sagt Serdült, der auch eine Teilzeit-Professur an einer Universität in Japan hat. Doch im Laufe der Jahre habe sie sich durchgesetzt, was vor allem auf das grosse Vertrauen in der Schweiz zurückzuführen ist – «gegenüber dem Staat und gegenüber der Post», wie der Forscher betont.
Heute ist eine neue Sicherheitsdebatte entbrannt – sie dreht sich um das E-Voting, die elektronische Stimmabgabe.
Kein Turbo-Effekt
Auch das Ziel der höheren Wahlbeteiligung ist erreicht, wenn auch nur teilweise. Eine Studie aus dem Jahr 2007, neuere Zahlen existieren noch nicht, schätzte eine Steigerung von rund 4,1% bei einer durchschnittlichen Stimmbeteiligung von 43% zwischen 1970 und 2005. Dies ist zwar insgesamt ein niedriger Wert. Doch er hängt nicht mit der Mühsal zusammen, an einem kalten Wintermorgen ins Wahllokal zu gehen. Vielmehr liegt es an der hohen Frequenz und auch an der bisweilen hohen Komplexität der Schweizer Abstimmungsvorlagen.
Und jene, die immer noch das physische Gefühl geniessen, ihre Stimme persönlich in eine echte, solide und verschlossene Urne einzuschieben – können dies auch weiterhin tun. Aber, das zeigen die Zahlen, es ist dies eine äusserst rare Spezies, zu der übrigens auch Jürg Billwiller in Oberwinterthur zählt. So klein die Gruppe aber geworden ist: Es ist unwahrscheinlich, dass sie in absehbarer Zeit aussterben wird.
Covid-Abstimmung
Diesmal jedoch führte die Pandemie dazu, dass viele Gemeinden die Briefwahl stärker als sonst pushten: In der Hauptstadt Bern zeigten Plakate in der ganzen Stadt eine Taube, die die Bürgerinnen und Bürger dazu aufrief, «gesund zu bleiben und per Post abzustimmen.»
Der Aufruf wurde gehört, verzeichneten doch die Behörden einen Anstieg der Briefwahlstimmen von 87,7% im Februar – der letzten nationalen Abstimmung – auf 93,3%.
Zahlen für den Anteil der brieflichen Abstimmung gibt es für die nationale Ebene jedoch keine. Klar ist aber, dass die Stimmbeteiligung am Super Sonntag mit knapp 60% die höchste seit Jahren war.
Die Zahlen, welche die Post liefert, betreffen zwar nur einige Kantone, doch sie zeigen ebenfalls eine Steigerung des Anteils der brieflichen Stimmabgabe. Die verfügbaren postalischen Zahlen zeigen einige marginale Steigerungen der Stimmen gegenüber dem Februar: Im Kanton Zürich stieg der Anteil von 90% auf 92,6, im Tessin von 93% auf 93,5% und im Kanton Basel-Stadt von 95% auf fast 96%. Whow!
In Oberwinterthur wirkte sich die Pandemie vor allem auf die Auszählung und weniger auf die Art der Stimmabgabe aus. Hier stieg die Zahl der Briefwahlstimmen um 1,5% auf knapp über 90%. «Ziemlich normal», wie Billwiller trocken bemerkt. Weniger normal waren die Arbeitsbedingungen seiner Crew: Normalerweise hätte er die doppelte Anzahl von Helfenden, und sie müssten nicht so weit voneinander entfernt sitzen, und sie müssten nicht alle maskiert werden, sagt der Leiter des Stimmlokals.
Sonst kämen die Zählerinnen und Zähler aus verschiedenen Altersstufen. Doch wenn Billwiller jetzt in den Saal schaut, sieht er nur junge Menschen. Das Risiko, jemanden zu engagieren, der aus einer Risikogruppe stammt, wollten sie ausschliessen.
Robust und sicher
Natürlich hat das System der Briefwahl, wie die Schweizer Demokratie selbst, – und auch jede andere Demokratie der Welt – seine Schattenseiten. Aber im Vergleich zu Debatten anderswo sind die Probleme «sehr begrenzt», sagt Uwe Serdült.
Betrug ist selten, passiert aber. Im vergangenen Jahr befragte die Polizei einen Mitarbeiter des Genfer Wahlbüros wegen des Verdachts, einige Stimmzettel zerstört und andere hinzugefügt zu haben. In Bern wurden 300 Stimmen bei den Kommunalwahlen 2016 für ungültig erklärt, nachdem die Ermittler herausgefunden hatten, dass sie alle die gleiche Handschrift hatten.
Der grösste Fall der letzten Jahre hat sich Anfang dieses Jahres bei den Parlamentswahlen im Kanton Thurgau ereignet. Dort ersetzte eine mittlerweile identifizierte, aber nicht geständige Person in einem Wahlbüro 100 Listen mit Stimmen für die Grünliberale Partei mit solchen der Schweizerischen Volkspartei. Die SVP, die aufgrund des Wahlbetrugs einen Sitz gewann, hat diesen inzwischen an die GLP zurückgegeben.
Die «Familienabstimmung»
Ein weiteres Problemfeld ist die Familie. Es ist ebenso wenig auszuschliessen wie auch rechtlich zu ahnden, dass eine Person die Stimmzettel aller stimmberechtigten Personen, die im Haushalt leben, ausfüllt. Oder dass jemand innerhalb der Familie zu einem Ja oder Nein gezwungen wird. Dabei sind Wahlfreiheit und Wahlgeheimnis gesetzlich verankert.
«In der politischen Kultur der Schweiz gehen wir davon aus, dass dies nicht stattfindet, obwohl es wahrscheinlich doch vorkommt», sagt Serdült. «Aber es ist ein Nicht-Thema.»
Briefmarken sind ein weiteres zwar kleines, aber doch hartnäckiges Thema rund um die Briefwahl. Während einige Kantone Stimmmaterial vorfrankiert verschicken, erwarten andere, dass jede Wählerin und jeder Abstimmende das Rückporto selbst bezahlt. Würde Sie das davon abhalten, Ihre Stimme per Post abzugeben? Der Zusammenhang ist unklar, obwohl die Frage auch schon im Schweizer Parlament aufgeworfen wurde.
Das alte Übel mit der Zustellung an die fünfte Schweiz
Eine Gruppe ist extrem stark von der Briefwahl abhängig: die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Nach dem vorläufigen Aus für das E-Voting ist es für die fünfte Schweiz praktisch der einzige Weg zur Teilnahme und zur Stimmabgabe.
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Und hier besteht aber seit Jahren – oder vielmehr Jahrzehnten – das leidige Problem, dass sie die Unterlagen zu spät oder gar nicht erhalten und so von der Teilnahme ausgeschlossen sind. Dies, weil die Postdienste ihrer Länder zu langsam sind.
So geschehen am Super-Sonntag, als laut einer Quelle 30’000 Schweizer Stimmende im Ausland ausgeschlossen waren. Allenfalls, und das wiegt in der Demokratie Schweiz doch schwer, hätten sie das Ja des Schweizer Volks zu den Kampfjets in ein Nein kippen können, wie Politikwissenschaftlerin Cloé Jans vom Forschungsinstitut gfs.bern anmerkte. Denn für das Verdikt gaben ganze 8670 Stimmen den Ausschlag.
Die briefliche Stimmabgabe werde «immer mehr veraltet», sagt Jézael Fritsche, Sprecherin der Auslandschweizer-Organisation (ASO). Die genannten Gründe laufe auf eine «faktische Diskriminierung» der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bei der Ausübung ihrer politischen Rechte hinaus, so Fritsche.
Sie und ihre Organisation werden daher weiterhin auf eine E-Voting-Möglichkeit drängen.
Frage ohne Antwort
Solche Sorgen gibt es in Oberwinterthur allerdings nicht. Das Porto wird im Kanton Zürich im Voraus bezahlt, Betrugsfälle sind im letzten Jahrzehnt unbekannt, und Billwiller ist mit dem Lauf der Dinge zufrieden. Rund 7000 Stimmzettel sind bis Samstagnachmittag eingegangen, was in seinem Zählkreis von rund 14’000 Stimmberechtigten bereits eine Wahlbeteiligung von über 50% bedeutet. Ungültige Stimmen sind selten, obwohl er hin und wieder gefordert ist, die Schrift, mit der ein Votum abgegeben wurde, zu entziffern.
Was ist das grösste Problem, das auftauchen kann? Billwiller denkt einen Moment lang nach, aber ihm will partout nichts einfallen. Da kommt ein Stimmenzähler, der dem Chef mit fragender Miene einen Zettel hinhält: Es ist ein Wahlzettel. Der von der letzten Kommunalwahl vom letzten Sommer stammt. Wurde hier einer Bürgerin oder einem Bürger die Demokratie etwas zu viel?
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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