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So sehen Schweizer Kommentatoren und Analystinnen die Ukraine-Krise

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Aus der Fülle der Meinungen und Informationen lassen sich einige grundlegende Fragen herauslesen, die für die Schweiz von Interesse sind. © Keystone / Christian Beutler

3000 Kilometer: Der Krisenherd in der Ukraine ist nicht weit von der Schweiz entfernt. Wie wird die drohende Eskalation im neutralen Land gesehen, und wie kommentieren das die Schweizer Medien?

Seit Wochen berichten die Medien der Welt über den Krisenherd in Osteuropa. Auch in der Schweiz verfolgen Korrespondent:innen von Schweizer Fernsehen und anderen Leitmedien die Lage. Expert:innen analysieren laufend die Entwicklung im Osten Europas. Wir verschaffen Ihnen mit einer Presseschau Übersicht.

Aus der Fülle der Meinungen und Informationen lassen sich einige grundlegende Fragen herauslesen, die für die Schweiz von Interesse sind. Zunächst einmal, welche Auswirkungen ein Krieg in der Ukraine auf die Schweiz hätte. Da steht die Gasversorgung Europas und jene der Schweiz im Vordergrund. Droht hier allenfalls eine Krise?

Dann geht es auch um die Grundsatzfrage, was den russischen Präsidenten Wladimir Putin überhaupt antreibt, grosse militärische Kapazitäten an der ukrainischen Grenze zu konzentrieren?

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Denn das ist mittlerweile allen klar: Damit zündelt der Kreml-Herrscher mit dem Frieden in Europa.

Daneben sind aber auch Fragen aufgeworfen, die über die praktische Bedeutung und den unmittelbaren historischen Moment hinausragen: Was bedeutet die aktuelle Krise für die europäischen Sicherheitsarchitektur, insbesondere für die OSZE. In der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ist auch die Schweiz Mitglied. Weiteres Thema sind auch die Minsker Vereinbarungen und welche Rolle sie im Konflikt spielen.

Die Ausland-Spezialist:innen der Schweizer Medien finden darauf ganz unterschiedliche Antworten.

Nur ein Muskelspiel

Putin habe mit seinem militärischen Muskelspiel schon enorm viel erreicht, sagt der Schweizer Spitzendiplomat Thomas Greminger in der Aargauer Zeitung. Sie betont, dass Greminger 2014 massgeblich an der Deeskalation zwischen West und Ost nach der russischen Annexion der Krim beteiligt gewesen sei. Greminger beurteilt die Situation als “sehr ungemütlich”(Stand 15.02.2022).

Er ist aber überzeugt, “dass wir nördlich, östlich und südlich der Ukraine vor allem ein militärisches Muskelspiel im grossen Stil erleben. Ich sehe kein Interesse Russlands, militärische Operationen gegen die Ukraine zu führen.”

Was ihn zu dieser Einschätzung führt: Die Kosten wären derart hoch, dass selbst ein “geringfügiger Angriff” gegen die Ukraine keinen Sinn ergebe, wie es der amerikanische Präsident Joe Biden kürzlich formulierte. “Ich halte Präsident Wladimir Putin für einen rational denkenden und handelnden Staatschef. Das grösste Risiko ist eine Provokation etwa mit einer False-Flag-Operation an der Kontaktlinie im Donbass. Hier muss man am genausten hinsehen,” so Greminger.

Der Spitzendiplomat vermutet, dass im Hintergrund verhandelt werde. Es brauche nun einen Prozess, einen Ablaufplan darüber, über welche Themen in welchem Format und mit welchem Zeithorizont verhandelt werden solle. “Das kann nicht mit der Pistole auf der Brust geschehen. Es muss jetzt eine Deeskalation geben. Ich denke, dass nach Abschluss der Manöver in Weissrussland am 20. Februar solche Schritte erfolgen”.

Ein verblüffendes Comeback

Die NZZ schreibt in einer Analyse, das Minsker Waffenstillstandsabkommen sei ins Rampenlicht zurückgekehrt. Das sei ein verblüffendes Comeback für ein Dokument, für das sich bis vor Kurzem nur noch Insider interessiert hätten. Böte das Abkommen ein Modell für eine Friedenslösung im Konflikt um die abtrünnige ostukrainische Region, vielleicht gar für eine Entspannung zwischen Moskau und Kiew? Auf den ersten Blick, scheine dies so, findet die NZZ.

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Ein genauerer Blick auf das Minsker Abkommen bringe jedoch ein Grunddilemma zutage, denn der Kreml setze das Übereinkommen wie auch seine Militärmacht als eine Art Brechstange ein, um sich langfristigen Einfluss in der Ukraine zu sichern und die aussenpolitische Handlungsfreiheit Kiews zu beschneiden.

Dazu käme, dass eine der Kriegsparteien — Russland — im Abkommen gar nicht erwähnt wird und entsprechend keine expliziten Verpflichtungen auf sich genommen habe. Dass Russland sich als blossen “Vermittler” darstellt, hindere es nicht daran, von der Ukraine eine bestimmte Lesart des Abkommens einzufordern.

Nach sieben Jahren, so die NZZ weiter, versuche Moskau mit dem Mittel der militärischen Erpressung zu erhalten, was es am Verhandlungstisch nicht erreicht hatte. Doch die russische Lesart des Abkommens sei keineswegs die einzig richtige. Vor allem sei es die Interpretation desjenigen Landes, das die weitaus grösste Schuld an diesem Krieg mit seinen bisher 14’000 Todesopfern trage.

Kalkulierter Nervenkrieg

Was in aller Welt aber treibt den russischen Präsidenten an, die Ukraine und damit indirekt auch Europa militärisch in die Zange zu nehmen? Die Frage ist so wichtig, dass die NZZ sie sogar auf die Titelseite ihrer Samstagsausgabe gesetzt hat. Die erste Interpretation dazu lautet, dass es dem Kreml primär um die Ukraine gehe, während die vom Kreml an die Wand gemalte NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als reine Propaganda-Fiktion diene, sei sie doch keine realistische Perspektive für dieses Jahrzehnt.

Die zweite Interpretation lautet, dass Putin nichts Geringeres anstrebt, als die europäische Sicherheitsordnung umzukrempeln. Die grosse NATO-Osterweiterung in Russlands Nachbarschaft liege allerdings bereits 18 Jahre zurück. Eine Bedrohung sei dem Reich Putins dadurch nicht erwachsen. Daher habe sein Verhalten in der gegenwärtigen Krise nicht allein mit Geostrategie, sondern viel mit innenpolitischem Kalkül zu tun, so die NZZ.

Die Bewahrung der eigenen Macht überrage alles. Der Volksaufstand gegen den weissrussischen Diktator Lukaschenko und die Entmachtung des kasachischen Langzeitherrschers Nasarbajew im Januar dieses Jahres müssten für ihn erschreckende Alarmzeichen gewesen sein.

Putin habe alles Interesse daran, das demokratische Pflänzchen im Nachbarland zu schwächen und die Regierung in Kiew zu destabilisieren. Er würde sich jedoch nicht blind in ein kriegerisches Abenteuer stürzen. Eine blosse Machtdemonstration genüge, um im Nervenkrieg mit Kiew und dem Westen Konzessionen herauszuholen, ohne einen einzigen Schuss abgeben zu müssen.

Flüchtlingsströme – oder nicht?

Was würde der Krieg für die Schweiz bedeuten? Diese Frage stellt die Gratiszeitung 20 Minuten. Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der schweizerischen Friedensstiftung swisspeace, sagt, ein potenzieller Krieg in der Ukraine hätte Auswirkungen auf ganz Europa, inklusive der Schweiz.

Die wirtschaftlichen Sanktionen des Westens würden auch von der Schweiz – in einem gewissen Ausmass – mitgetragen werden. Man dürfe nicht vergessen, dass Russland einer der grössten Erdöl- und Erdgasförderer der Welt sei, so Goetschel.

Thomas Grünwald vom Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) sagt, nicht nur Erdöl und Erdgas, auch Weizen sei ein Hauptexportprodukt, sowohl der Ukraine als auch von Russland. Auch die Schweiz importiere Weizen aus diesen Ländern, doch eine kurzfristige Beeinträchtigung dieses Handels sei jedoch verkraftbar. Die Schweiz treffe stets Vorkehrungen, um solche Mangellagen auszugleichen.

Nicolas Hayoz, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Freiburg und Osteuropa-Spezialist, sagt, bei einem russischen Einmarsch sei mit zahlreichen Flüchtlingen zu rechnen. Nach dem Prager Aufstand 1968 habe die Schweiz etwa 11’000 Tschechoslowak:innen aufgenommen. Laurent Goetschel rechnet hingegen nicht damit, dass die Flüchtlingsströme die Schweiz erreichen, denn der Krieg in den osteuropäischen Gebieten der Ukraine, in Donezk und Luhansk, habe bereits primär zu Vertreibungen innerhalb der Ukraine geführt.

Energiepolitische Geiselhaft

Die europäische Energiestrategie kommt nicht ohne russisches Gas aus – das sei eine Strategie für Friedenszeiten, die Europa im Ernstfall teuer zu stehen käme, urteilt das Schweizer Fernsehen SRF. Europa habe die eigene Erdgas-Förderung in den letzten Jahren stark gedrosselt – unter anderem aus klimapolitischen Überlegungen. Doch die Nachfrage nach Gas richte sich nicht nach den hehren Zukunftsvisionen von Regierungen.

Besonders im Osten Europas sei die Abhängigkeit von russischem Gas gross, auch für Länder in Mitteleuropa gehöre Gas aus Russland seit Jahren zur Energiestrategie. Mit der Pipeline Nord Stream 2 stehe ein Projekt in den Startlöchern, mit dem die Lieferkapazität für Länder wie Deutschland deutlich erhöht würde. Es überrasche daher nicht, dass die deutsche Bundesregierung im geopolitischen Poker mit dem Kreml bisher eher zurückhaltend agiert habe.

Einen Ausweg aus der Abhängigkeit gibt es laut SRF kurzfristig nicht. Würde der Kreml einen Kurswechsel vollziehen und den Gashahn zudrehen, reichten die Reserven laut Experten noch ungefähr bis Ende März. Optimistisch stimme aber, dass Russland sich bisher an die vereinbarten Lieferverträge halte. Und: auch Russland sei aus wirtschaftlichen Gründen auf Gaslieferungen angewiesen.

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