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Schweizer Fans: Es ist nicht Nationalismus

Hunderte Fans stürmten nach dem Schweizer Sieg den Bundesplatz in Bern. Keystone

In Deutschland und der Schweiz ist die Leidenschaft der Fans der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft gross. Patriotismus, Nationalismus oder nur die Möglichkeit zum Festen?

Für den Anthropologen Fabrizio Sabelli ist es eher das Bedürfnis nach einem kollektiven Ritus. In globalisierten Gesellschaften würden diese weitgehend fehlen, erklärt er gegenüber swissinfo.

swissinfo: Markieren diese Freudenausbrüche um die Schweizer Nationalmannschaft herum die Rückkehr von Patriotismus oder sogar Nationalismus?

Fabrizio Sabelli: Weder noch. Das hat nichts mit diesen beiden Begriffen zu tun, im klassischen Sinn des Wortes. Ich vermute eher, dass es darum geht, so etwas wie ein Kollektivgefühl wieder zu entdecken.

Die Tatsache, dass man gegen jemanden kämpft, gegen jemanden gewinnt, ruft gewisse Gefühle hervor, die nationalistisch oder patriotisch erscheinen mögen. Ich nenne das einen simulierten Krieg, ein “Kriegsspiel”.

Doch es bleibt ein Spiel, ein vergänglicher Moment. Sobald die Fussball-WM zu Ende ist, wird nicht mehr darüber geredet und die Leute werden zu ihren kulturellen Gewohnheiten zurückkehren.

swissinfo: Mit Alinghi, Roger Federer oder Martina Hingis ist sich die Schweiz Siege gewohnt. Was ist bei den Fussballern anders?

F.S.: Ganz einfach die Tatsache, dass Fussball eine viel grössere mediale Ausstrahlung hat, und dass es ein viel populärerer Sport ist.

swissinfo: Trotzdem, die Begeisterung war bei der letzten Schweizer Teilnahme an einer WM-Endrunde 1994 in der USA weit weniger gross.

F.S.: Das stimmt. Ich denke einfach, dass sich die Zeiten geändert haben. Unsere Epoche ist eine eher langweilige Epoche, die wenige Momente bietet, wo man zusammenkommen kann. Die Menschen brauchen das.

Sie wollen sich treffen, weil sie immer mehr alleine sind. Und die Einsamkeit ist nicht nur ein Schweizer Übel, es gibt sie in allen modernen Gesellschaften. Doch wir alle brauchen Riten. Sie fehlen uns in der globalisierten Gesellschaft sehr.

swissinfo: Falls sich die Schweizer Fussball-Nati für die Achtelfinals qualifiziert, könnte sie auf Spanien treffen. Könnte es mit der grossen spanischen Gemeinschaft, die wir in der Schweiz haben, zu echten Auseinandersetzungen auf der Strasse kommen?

F.S.: Das würde bedeuten, dass alles, was ich gesagt habe, falsch wäre. Es würde eine echte Rückkehr zu einer Art Nationalismus bedeuten, politisch oder ideologisch. Aber das glaube ich absolut nicht.

Die Konfrontation würde spielerisch bleiben, und ich denke sogar, dass sie einen gegenteiligen Effekt haben könnte. Wir würden die Chance erhalten, unseren Gegner besser kennen zu lernen und ihn vielleicht auch zu respektieren, wenn er gewinnt.

Ich habe volles Vertrauen in die Menschen, dass die den Sinn für die Geselligkeit wieder finden. Es wird sicher einige Übertretungen geben, doch das Phänomen des Hooliganismus ist marginal.

swissinfo: Die Schweiz tritt diesmal mit einer ethnisch buntgemischten Mannschaft an. Trotzdem steht das ganze Land als eine Art “heilige Union” hinter rot-weiss?

F.S.: Wir haben hier ein Musterbeispiel für das Gelingen der Schweizer Integrationspolitik. Und das ist nicht der einzige Fall. Auch bei den Franzosen sind die “Ausländer” in der Mehrzahl.

Interessant ist, dass die Leute die in der Schweizer Nati engagierten Ausländer als Schweizer wahrnehmen. Das ist ein “magischer” Effekt des Spiels und des Sports.

swissinfo: Denken Sie, dass diese Magie nach dem Fussballfest weiterleben wird?

F.S.: Ich denke nicht. Dieses Gemeinschaftsgefühl hat einen vergänglichen Charakter. Es ist an den Moment gekoppelt und sicher, nicht zu vergessen, an die Nationalmannschaft. Das heisst, einige Individuen, die etwas verkörpern, was zu einer Gemeinschaft genannt Nation gehört.

Doch sie verkörpern dies nur für die Zeit des Turniers, nicht darüber hinaus. Ich denke nicht, dass der Fussball einen wichtigen Einfluss darauf haben kann, wie wir andere Menschen wahrnehmen.

swissinfo-Interview: Marc-André Miserez
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

Am 13. Juni schauten in Stuttgart rund 70’000 Schweizer Fans den Match gegen Frankreich (0:0). Die Hälfte davon im Stadion, die andere Hälfte auf Grossbildschirmen in der Stadt.

Am 19. Juni waren zwischen 50’000 und 65’000 der Plätze im Stadion in Dortmund von Schweizern besetzt. Die meisten kamen mindestens zwei Tage vor dem Sieg gegen Togo (2:0) an.

Beim Schlusspfiff dieses Spiels explodierte die Schweiz förmlich vor Freude. Mit Fahnen, Gehupe und noch nie gesehenen Aufmärschen auf Plätzen, wie man sie bisher nur im Ausland vermutete.

Für das Spiel Schweiz-Korea am 23. Juni wird in Hannover eine Schweizer Welle von Fans in rot-weiss erwartet.

Fabrizio Sabelli wurde 1940 in Rom geboren. Er ist Anthropologe, Autor und Entwickler von Kulturprojekten.
Er hat während langer Zeit in der Schweiz unterrichtet, hauptsächlich am Institut für Entwicklungsstudien der Universität Genf (IUED), an den Universitäten Neuenburg und Lugano.
Sabelli war auch an der Schweizer Landesausstellung Expo.02 beteiligt.
Er hat viel über die Probleme der Entwicklung und der Zusammenarbeit der Schweiz mit den Ländern des Südens publiziert.

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