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Im Herzen sind die Schweizer ängstliche Krieger

Illustration einer Person, die zwischen den Klippen Frau und Mann springt
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Schweizer Männer und Frauen interpretieren "Mut" sehr unterschiedlich. Was das mit traditionellen Stereotypen und Erziehung zu tun hat, erklärt ein Psychologe. 


Arnold Winkelried umfasste im Jahr 1386 ein Bündel gegnerischer Lanzen, spiesste sich selbst damit auf und durchbrach damit die habsburgische Front. So will es zumindest die Legende.

Ob wahr oder nicht: Gefragt nach der mutigsten Persönlichkeit, nennen Schweizer Männer Winkelried an erster Stelle. Dies ist das Resultat einer repräsentativen StudieExterner Link, die der Frage nachgeht, was Schweizerinnen und Schweizer als mutig erachten – und wo sie sich selbst verorten. 

Hat sich denn gar nichts verändert in den vergangenen acht Jahrhunderten?

“Der traditionelle Mutbegriff ist der des Soldaten im Kampf auf dem Schlachtfeld.”

Das sagt der Zürcher Psychologe Andreas DickExterner Link. Er hat ein Buch zum Thema Mut geschrieben.

Porträt von Psychologe Andreas Dick
Psychologe Andreas Dick. Andreas Dick

Seit Aristoteles wird auch in der Philosophie mit “Mut” mehrheitlich “Todesmut” auf dem Schlachtfeld gleichgesetzt – und mit Mannhaftigkeit. Mut also als etwas, das potenzielle Gefahren für Leib und Leben mit sich bringt. Ins moderne Leben übertragen äussert sich dies in Freizeitaktivitäten wie Sport oder Extremsport. 

Traditionell anerzogene Ängste

“Die Prägung des Begriffes ‘Mut’ ist teilweise verknüpft an Stereotypen von Geschlechterrollen”, so Andreas Dick. Buben werden hierzulande erzogen, sich physisch zu behaupten. Mädchen dazu, “lieb” zu sein. Das ist nicht nur in der Schweiz so, sagt der Psychologe. Es gäbe wenige Gesellschaften, die nicht so funktionierten. Aber: “Für das individuelle Wohlbefinden sind weniger starre Stereotypen sicher wünschenswert.”



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In der Praxis erlebt der Zürcher Psychologe, dass die grossen Fragen – wie Bindungen eingehen oder Kinder kriegen – sehr von Normen geprägt sind. “Die Schweiz ist diesbezüglich eher traditionell.” 

Das erklärt die Angst von Männern vor Beziehungen: “Die Hingabe, Übernahme von Verantwortung und Verbindlichkeit bedeutet für Männer tendenziell eine stärkere Einschränkung von Freiheit – also auch ein Wechsel der zugeschriebenen Rolle.”

Beziehung versus Freiheit

Und die Frauen? “Frauen machen tendenziell eher Mobbing-Erfahrungen oder fürchten zumindest die Reaktionen, wenn sie eher dominant und freiheitsliebend auftreten”, so Dick. Von Frauen wird nicht erwartet, dass sie sich die Freiheit einfach nehmen. Dieser “Just do it”-Ansatz bedeute für sie oft ein stärkerer Ausbruch aus der gesellschaftlichen Rolle als für Männer. 

Zwar erfordert das Eingehen einer Beziehung für Schweizer Männer mehr Mut als für Schweizer Frauen, doch bereuen sie es im Nachhinein oft, diesen nicht aufgebracht zu haben. Frauen hingegen bereuen, dass sie nicht alleine in der Welt herumgereist sind.




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Diese Erfahrung hat Psychologe Andreas Dick auch in seiner Praxis gemacht. Bei Männern sei das Alleinreisen kaum ein Thema, bei Frauen schon: “Es geht dabei weniger um tatsächliche Gefahren während der Reise.” Die meisten seiner Klientinnen trauten sich selbst einiges zu. “Doch sie sorgen sich eher darum, dass sich ihre Eltern zu viele Sorgen machen.” 

Konfliktscheue als Schweizer Überlebensstrategie

Unabhängig vom Geschlecht wären die Menschen in der Schweiz gerne etwas mutiger – und schätzen sich auch vorsichtiger ein als die Bürgerinnen und Bürger der Nachbarländer. Die kollektive kulturelle Identität präge die individuelle natürlich stark mit, sagt Psychologe Andreas Dick. 

“Es ist vielleicht Teil der Schweizer Identität, seit vielen Jahrhunderten keine Kämpfernatur zu haben.” Sich aus Konflikten rauszuhalten, sei als Überlebensstrategie eines Kleinstaates zu verstehen. Also: Lieber vorsichtig sein als in einen Konflikt oder eine unangenehme Situation zu geraten.

Zeit für neue Vorbilder?

Dies zeigt sich laut Andreas Dick deutlich in der Arbeitswelt: Schweizerinnen und Schweizer seien eher konfliktscheu. “So verzweifeln Deutsche hier in den Büros regelmässig daran, dass ihre Schweizer Kolleginnen und Kollegen Konflikte nicht oder nur indirekt ansprechen.”

Die Legende vom todesmutigen Winkelried ist lange her. Die Schweiz hat sich verändert, und mit ihr die Schweizerinnen und Schweizer. Vielleicht ist es Zeit für neue Vorbilder. 



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Die Studie wurde von der Forschungsstelle Sotomo im Auftrag der Allianz-Versicherung erstellt. Es wurden 12’934 Personen in der gesamten Schweiz zwischen 18 und 80 Jahren befragt. Hier geht es zur Studie.Externer Link 

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