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Wählerstimmen allein sind nicht entscheidend

Ernst Nobs, der erste Bundesrat der SP. Keystone Archive

Im politischen System der Schweiz wird die Regierung nicht vom Volk gewählt. Diese Aufgabe ist dem Parlament überlassen.

Die Zusammensetzung der Exekutive entspricht der Stärke der verschiedenen Parteien. Aber die Arithmetik ist nicht das einzige Kriterium.

Seit 1959 teilen sich vier politische Parteien die sieben Sitze in der Regierung (Bundesrat), und zwar nach einem genauen Verteilschlüssel, der so genannten “Zauberformel”.

Dieser Verteilschlüssel richtet sich einerseits nach der Stärke der Parteien gemäss ihren Wählerzahlen, andererseits wird auch ein sprachliches Gleichgewicht angestrebt.

Die Sozialdemokratische Partei (SP, links), die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP, mitte-rechts) und die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP, rechts) haben je zwei Sitze. Die Schweizerische Volkspartei dagegen (SVP, rechtsaussen) hat nur einen.

Ein langer Prozess

Diese Aufteilung galt nicht von Anfang an. Bei der Schaffung des Bundesstaates 1848 besetzten die Freisinnigen alle Regierungssitze, und dies blieb so bis 1891.

Da erst tritt zum ersten Mal ein Mitglied der katholisch-konservativen Partei (Vorgängerin der CVP) der Regierung bei. Dank dieser Integration können sich die Freisinnigen ihren Feinden annähern, welche den Bundesstaat mit Referenden blockieren können.

Mit der Einführung des Proporzsystems bei den Nationalratswahlen 1919 verändert sich die Situation grundsätzlich. Die Zahl der freisinnigen Nationalrats-Sitze verringert sich auf einen Schlag von 105 auf 63.

Aufgrund dieser Schwächung verstärken sie die Beziehungen mit den Katholisch- Konservativen, welche einen zweiten Sitz in der Regierung erhalten.

1929 erringt auch die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (Vorgängerin der SVP), einen Regierungssitz.

Zu dieser Zeit ist die Sozialdemokratische Partei als einzige wichtige politische Formation noch nicht Teil der Regierung. Erst 1943 werden die Linken integriert, da die Nation angesichts der Nazi-Gefahr näher zusammenrückt.

1959 erhalten die Sozialdemokraten einen zweiten Sitz im Bundesrat. Das ist die Geburtstunde der “Zauberformel”, wie wir sie noch heute kennen.

Risse im Gebäude

Dieser Verteilschlüssel für die Regierung ist nun also seit über vierzig Jahren in Kraft. Trotzdem wird er immer mal wieder in Frage gestellt.

Die ersten, die dies taten, waren die Sozialdemokraten. In den 80er-Jahren fragten sie sich allen Ernstes, ob es sich noch lohne, Teil einer Regierung zu sein, die ohnehin von der Rechten dominiert ist.

1984 diskutierte die SP die Frage an einer Ausserordentlichen Delegiertenversammlung. Schliesslich kam man mit 773 gegen 511 Stimmen zum Schluss, dass man sich, wenn auch in einer Position der Minderheit, doch lieber an der Regierung beteiligen wollte als in die Opposition zu gehen.

In jüngerer Zeit ist es die Schweizerische Volkspartei, welche gegen die Zauberformel antritt. Seit 1995 gewinnt die rechtsaussen stehende Partei laufend Wählerstimmen und ist nun zur stärksten Partei des Landes geworden. Die SVP findet deshalb, dass ihr ein zweiter Sitz in der Regierung zusteht.

Ein solcher Sitzgewinn könnte zu Lasten der CVP gehen. Diese verliert nämlich seit mehreren Jahren Stimmen. Bei den Wahlen von 1999 erhielt die CVP nur 15,78%, die SVP dagegen 22,55% der Stimmen.

Nicht nur eine Frage der Mathematik

Laut Umfragen dürfte die SVP bei den kommenden Wahlen im Oktober weitere Gewinne machen. Falls dies eintritt, würde die Frage eines zweiten SVP-Sitzes im Bundesrat noch akuter.

Doch die Resultate der Wahlen vom 19. Oktober sind vielleicht gar nicht so entscheidend, wie viele glauben. Die SVP bleibt zwar in einigen Kantonen sehr stark, womit sie im Ständerat eine grosse Zahl an Abgeordneten (15) behalten kann.

Insgesamt aber haben die Christlichdemokraten, trotz der Differenz der Anzahl Wählerstimmen auf landesweiter Ebene, nicht viel weniger Vertreterinnen und Vertreter im Parlament als die SVP. Zur Zeit hat die CVP 50 Abgeordnete unter der Bundeskuppel, die SVP hat deren 51.

Aber vor allem ist die Zauberformel nicht nur eine Frage der Mathematik. Das System verlangt auch, dass die verschiedenen Regierungsmitglieder sich verständigen und eine gemeinsame Politik machen.

Wenn also die Wiederwahl des Bundesrates ansteht, dürften sich viele Parlamentsmitglieder fragen, ob es wirklich gut wäre, einen zweiten SVP-Vertreter im Bundesrat zu haben.

In den letzten Jahren hat sich diese Partei nämlich in gewissen Fragen (UNO, Europa, friedenserhaltende Truppen usw.) durch eine starke Oppositionspolitik in der Regierung hervorgetan.

swissinfo, Olivier Pauchard
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

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