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An der Rennstrecke der Velokuriere

Konzentrations-Ritual der Velokuriere, bevor das Rennen um die EM-Titel losgeht. ECMC2013: Martin Bichsel

Reglos liegen die Radfahrer mitten auf einer Strasse in der Stadt Bern und konzentrieren sich auf die zu bewältigende Aufgabe: ein Wettkampf um den Titel des besten Velokuriers Europas. Die erforderliche Geschicklichkeit bei dieser Austragung entspricht aber nicht ganz jener des Alltags.

Die Phase der Konzentration ist vorbei, die Wettkämpfer behändigen ihre Räder und reihen sich für das Rennen ein. Die Stimmung im Berner Lorraine-Quartier ist festlich, als das Startsignal zum Final der Europäischen Velokurier-Meisterschaft erschallt.

“Nur der Beste wird es schaffen!”, ruft der Veranstalter durchs Megaphon, während die Fahrer die Riemen ihrer Tragtaschen festziehen und einen Blick auf den Plan werfen, um sich die Strecken einzuprägen, die sie für die Lieferung der Pakete abfahren werden.

Drei Runden oder besser drei “Manifeste” (Vgl. Kästchen) werden sie absolvieren. Auf den letzten zwei, drei Runden werden sich nur noch die Besten aus dem Feld von 50 Teilnehmenden messen. Jede Runde bedeutet weitere Paket-Lieferungen auf einer anderen Route, die es einzuprägen gilt. Ein langes Rennen steht bevor.

Laurent, ein Fahrer aus Genf, der einen Velokuriershop besitzt, fährt schon seit zehn Jahren. Radfahren verleidet ihm nicht, obwohl das Velo für ihn nicht nur ein Sport-, sondern auch ein Arbeitsgerät ist. Die Wettkämpfe mit Fahrern aus der ganzen Welt bieten Networking-Gelegenheiten.

Die Teilnehmer am Wettkampf der Velokuriere erhalten eine Karte vom Rennverlauf und ein “Manifest”, auf dem eingetragen ist, wo die Fracht zu holen und abzuliefern ist.Die Reihenfolge der Lieferung ist meistens den Wettkämpfern überlassen.

Das Teilnehmerfeld wird nach jeder Runde kleiner, weil die Langsamsten ausscheiden müssen.

In der Finalrunde kämpfen noch rund ein Dutzend Fahrer um den Sieg. Die Sieger erhalten Trophäen und Geschenke, wie Veloreifen und Botentaschen.

Die Fahrer können auch an andern Wettkämpfen in dieser Disziplin teilnehmen, zum Beispiel am:

  • Longest Tyre skid mark (längste Bremsreifenspur)
  • Bester Sprinter
  • Longest Track stand (so lange wie möglich bewegungslos auf dem Velo verharren)

“Man trifft Leute aus andern Städten Europas und erfährt, wie sie arbeiten, welchen Job sie machen. Die einen liefern Lebensmittel aus, andere Express-Post.”

Natalie, eine weitere Fahrerin aus Genf, gehört zu den zehn Frauen am Wettkampf. Sie hat inzwischen das Leben in der Stadt gegen ein Leben in den Bergen eingetauscht.

Anstatt in einem Velokurier-Geschäft arbeitet sie nun in einer Skischule. Aber an den Wettkämpfen nimmt sie immer noch teil. “Es ist wie eine Familie, ich will dazu gehören und mitmachen.”

Schnelle Schweizer

“Velo! Velo!”, widerhallen die Rufe des freiwilligen Helfers in der orangen Weste, der alle Hände voll zu tun hat, dafür zu sorgen, das unachtsame Zuschauer beim Überqueren der Strasse nicht mit heranrauschenden Rennfahrern zusammenprallen. Die Fahrer können nämlich aus allen Richtungen auftauchen, weil sie die Reihenfolge der Zielorte für die Paketlieferungen, die in der Region verteilt sind, selber bestimmen. Mitentscheidend ist es, die Strecke so zu wählen, dass die Summe der Distanzen so kurz wie möglich ist.

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Multitasking

Diese Vorgaben entsprechen allerdings nicht dem professionellen Alltag eines Velokuriers, sagt der Schweizer Fahrer Armin Biehler: “Der Rennsport hat viel Ähnlichkeit mit Orientierungslauf. Viele haben Erfahrungen damit, vor allem unter den Frauen. Im Alltag der Velokuriere sieht es ein bisschen anders aus, weil man im Verkehr unterwegs ist und es verstehen muss, diesem so gut wie möglich auszuweichen. Hier hingegen braucht man Orientierungssinn und Geschwindigkeit.”

Für Dominik Guggisberg, Direktor einer Berner Velokurier-Firma, die ihren 25. Geburtstag feiern kann, sind die Wettkämpfe ganz einfach eine intensivere Form des alltäglichen Fahrens. “Der Körper gelangt an seine Leistungsgrenze, aber im Kopf braucht man immer noch genügend Blut, um denken zu können”, sagt er.

“Vielleicht sind mehrere Lieferungen gleichzeitig auszuführen. Dann musst Du die Adressen kennen, die Preise, die Kontaktnamen. Im Alltag hast Du als Kurier Unterstützung vom einem Disponenten, aber im Rennen musst Du allein klarkommen.”

Dass die Schweizer in den Kuriermeisterschaften seit Jahren gut abschneiden, liegt laut Biehler auch daran, dass die Sportdisziplin “Orientierungslaufen” in der Schweiz gut verankert ist. Für den Final der Meisterschaft haben sich mehrheitlich Schweizer qualifiziert, ein paar Deutsche und ein Schwede, obwohl in den Ausscheidungen zuvor Fahrer von Ljubljana bis Beirut teilnahmen.

“Die Stärke der Schweizer hat schon Tradition. Auch die Amerikaner, eine Art Hipsters, machen Eindruck auf der internationalen Szene”, sagt Bieler schmunzelnd.

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Schicke Räder sind wieder aus Stahl

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Ein Rahmen aus dünnem Stahlrohr, zwei Räder, zwei Pedalkurbeln, Kette, Sattel, Stummellenker: Starrlaufvelos ohne Gangschaltung – Fixed Gear Bikes oder Fixies genannt – stehen für die Reduktion des Velos auf das technische und ästhetische Minimum. “An einem Fixie gibt es nicht mehr viel, was man weglassen kann”, sagt Marius Graber, Technikredaktor beim Fachmagazin Velojournal, gegenüber…

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Modesetter

Die meisten Kuriere bestätigen, manchmal mit einer Mischung aus Stolz und Verdruss, dass ihre Lebensform eine bestimmte Kultur hervorgebracht hat, die vom Mainstream übernommen wurden, vom “Fixie” (Starrgang-Velo) bis zu den Botentaschen und -mützen.

“Wir stellen fest, dass das Velo in den letzten Jahren unter jungen Leuten ein wenig zum Statusobjekt geworden ist”, sagt Guggisberg. “Es ist eine neue Velokultur entstanden.”

Aber jedes Stück des Outfits eines Velokuriers hat seinen Zweck, von der geräumigen, wetterfesten Schultertasche bis zu den mit Krempen ausgestatteten Hüten, die Sonne und Schweiss fernhalten sollen.

Das folgende Video zeigt einen Berner Kurier, der sich auf seinen Job vorbereitet.

“Für Gelegenheits-Radfahrer in der Stadt geben wir nicht immer das beste Beispiel ab”, räumt Laurent ein, “weil wir uns in den Verkehr begeben und uns nicht auf Fahrrad-Wegen bewegen.”

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Arbeit oder Spiel

Bei der Ausbildung junger Kuriere gebe es viel zu beachten, um aus Gelegenheitsradlern schnelle Kuriere zu machen. “Zuerst schicken wir den Anfänger mit einem Partner auf die Strecke, der ihm zeigt, wie die Dinge laufen – die wichtigsten Kunden, Gepäckabgabe auf den Bahnhöfen, die besten Routen”, sagt er.

“Wir achten auch darauf, dass wir nicht zu viele Neulinge gleichzeitig unterwegs haben. Auf den Bahnhöfen zum Beispiel kann vieles falsch laufen. Wenn Du in der Stadt etwas an einen falschen Ort lieferst, ist es meistens keine Tragödie, aber wenn ein Paket in Genf anstatt in Zürich ankommt, gibt es grössere Probleme.”

Obwohl die technologische Entwicklung die Nachfrage nach Kurierdiensten in gewissen Bereichen schrumpfen liess – insbesondere bei Fotografien und Druckerzeugnissen, die auf elektronischem Weg ins Ziel finden, werden Velokuriere laut Guggisberg niemals arbeitslos werden, weil die Nachfrage in anderen Wirtschaftsbereichen, zum Beispiel für den schnellen Transport von technischen Plänen für die Bauindustrie oder von medizinischen Produkten, nicht schwindet.

Die nächste Generation von Velokurieren und Kurier-Rennfahrern werde sich auf die Lieferung von grossen Posten konzentrieren, prophezeit Biehler. “Die Stadtzentren werden mehr und mehr autofrei. Deshalb wird es Lastvelos brauchen, um das Material zu transportieren”, sagt er. “Oder sie werden als Lieferdienste funktionieren, welche die Einkäufe der Kunden in kurzer Zeit in die Haushalte fahren. Das ist die Zukunft.”

In Bern ist das Rennen nach drei vollständigen Runden zur Hälfte ausgetragen. Laurent, der die Fortsetzung von der Seitenlinie aus mitverfolgen muss, gönnt sich ein Bier. Er hat die Qualifikation ins Finale der schnellsten Fahrer nicht geschafft. Was sich aber nicht auf die gute Stimmung auszuwirken scheint.

Jede Stadt ist eine Herausforderung für ihre Velokuriere. In Lausanne sind es die berühmten Hügel. Bern hat laut Guggisberg “von allem ein bisschen”: Tram- und Busverkehr in engen Gassen, Hügel und viele Brücken.

In der Schweiz arbeiten die meisten Kuriere als Firmenteilhaber. In Berlin und New York hat es viele unabhängige Kuriere, die für ein grösseres Frachtnetzwerk tätig sind, so wie Taxis.

Tokio soll weltweit die höchste Konzentration von Velokurieren haben.

Vom 30. Juli bis 4. August 2013 wetteifern Velokuriere aus aller Welt in Lausanne um den Titel des weltbesten Veloboten.

Die letzte Austragung fand in Chicago statt, die nächste wird in Mexico City durchgeführt werden.

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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