Freizeit, wie wir sie heute kennen, war nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Dies galt bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem für Frauen.
1877 wurde mit dem eidgenössischen Fabrikgesetz der 11-Stunden-Tag eingeführt. War die Fabrikarbeit erledigt, hatten die Männer freie Zeit, man nannte dies Restzeit. Arbeiterinnen erledigten nach der Fabrik den Haushalt, die Wäsche, die Kinderpflege und das Kochen – Frauen mussten sich ihr kleines bisschen Freizeit hart erkämpfen.
So machte es die Attraktivität der Warenhäuser, die Ende des 19. Jahrhunderts in der Schweiz eröffneten, aus, dass hier Pflicht zum Vergnügen werden konnte: Die Frauen konnten hier ausserhalb ihres Quartiers einkaufen und somit für einen Moment der sozialen Kontrolle entfliehen.
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Erste weibliche Freiräume boten auch die ersten öffentlichen Badeanstalten, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbaut wurden, um dem wachsenden Hygienebewusstsein gerecht zu werden. Doch erst 1837 fällt in Zürich das Badeverbot für Frauen und ein «Badhaus für Frauenzimmer» wird errichtet.
Kino, Tanz, Kaffeehäuser
Oftmals waren es Künstlerinnen, intellektuelle und mutige Frauen, die den Weg für mehr Rechte und Freiheiten ebneten. Sie hatten in Paris, London und New York studiert und wollten nach ihrer Rückkehr Austausch und Kultur in der Schweiz fördern. Sie wollten die Form ihres Gesellschaftslebens selbst bestimmen.
Zwei Beispiele sind die Bildhauerin Anna Indermaur, die erste Kinodirektorin der Schweiz, und die autodidaktische Tänzerin Trudi Schoop, die 1921 als 18-jährige ihre eigene Tanzschule eröffnete.
In den 1920er-Jahren wollte sich nicht nur der kreative Geist, sondern auch der Körper aus Zwängen befreien. Sexuelle Tabus und strenge Konventionen wurden aufgelöst. Für Frauen hiess das, dass sie nicht mehr auf Partner angewiesen waren, die sie ausführten und teilhaben ließen. Diese Revolution spiegelte sich auch im Tanz, der die Ketten des Paartanzes längst gesprengt hatte.
Trudi Schoop’s Tanzkreationen und Pantomimen wurden vom Publikum teilweise als komische Nummern empfunden, daher wurde sie als weibliche Charlie Chaplin bezeichnet. Sie gründete 1931 ihre zweite „Schule für künstlerischen Tanz“, um ihre eigenen Vorstellungen von Schönheit und tiefem Ernst des modernen Ausdruckstanzes zu verwirklichen. Auch sie hatte zu kämpfen mit den herrschenden Moralvorstellungen und nach fünf Jahr musste sie ihr Tanzlokal in einer Zürcher Kirche wieder aufgeben. Sie wanderte in die USA aus und wurde zu einer Wegbereiterin der Tanztherapie.
Im Zuge der Urbanisierung wuchs eine Industrie, die Angebote zum Vertreib der nun vorhandenen freien Zeit anbot – eine Entwicklung, die sich noch verstärkte, als 1919 die 48-Stunden-Woche eingeführt wurde. Zerstreuung und Unterhaltung wurden im Zirkus, in der Oper, im Theater und ab Mitte der 1920 Jahre im Radio angeboten.
Gleichzeitig wurden verschiedene Jugend- und Frauenorganisationen ins Leben gerufen, um dem befürchteten Sittenzerfall entgegenzuwirken. Sie boten kontrollierte und ihres Erachtens “sinnvolle” Freizeitbeschäftigungen, die je nach politischer oder konfessioneller Ausrichtung die jungen Menschen prägen sollten.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden auch zahlreiche Frauenzeitungen in den Bereichen Pädagogik, Hauswirtschaft, Pflege, Gewerbe und Industrie. Aber auch Unterhaltungs- und Modezeitschriften erfuhren einen Aufschwung und liessen ihre Leserinnen in grosszügigen Fotoreportagen in die grosse weite Welt schweifen.
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