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Wieder mehr Religion an Schweizer Schulen?

Sind unsere Grundwerte religiös oder universell? RDB

Um die Vermittlung von Grundwerten in Schweizer Schulen ist eine Diskussion entbrannt. Während der Lehrerverband christliche Bildung stärker gewichten will, warnt ein Experte vor einem Rückschritt.

“Es gibt vermehrt Probleme im Umgang mit Religionen”, sagt Beat W. Zemp, Präsident des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), gegenüber swissinfo.

“Die Migration ist mit ein Grund, dass in heutigen Klassen die Heterogenität auch bezüglich Religionszugehörigkeit steigt”, so Zemp.

Doch auch unter Schweizer Kindern gebe es viele, die nicht mehr einer der grossen Landeskirchen angehörten.

Aus diesem Grund hat die Geschäftsleitung des Lehrerverbands ein Positionspapier ausgearbeitet, das Empfehlungen für den Umgang mit religiösen Fragen und Werten in der öffentlichen Schule abgibt.

Konkrete Hilfe

Einerseits geht es darum, die rechtlichen Grundlagen betreffend Religionsfreiheit aus Bundesverfassung, Zivilgesetzbuch und UNO-Kinderrechts-Konvention in Erinnerung zu rufen.

Andererseits schaffen diese Grundlagen Zielkonflikte zwischen dem konfessionell neutralen Auftrag der Schule, ethische Grundwerte zu vermitteln, und Wertesystemen, welche diese in Frage stellen.

“Glaubens- und Gewissensfreiheit, Toleranz und Gleichstellung gehören zu den Werten, die soziales Zusammenleben und Integration erst ermöglichen”, so Zemp.

Ein Grossteil der gesellschaftlichen Konventionen in Europa könne ohne Kenntnis der jüdisch-christlichen Wurzeln nicht verstanden werden, heisst es im Papier.

Schliesslich will der Verband im Umgang mit Problemen konkrete Hilfe anbieten. “Wie sollen sich Lehrerinnen und Lehrer verhalten, wenn es zu Schwierigkeiten kommt? Hier bietet das Papier Handlungsempfehlungen”, sagt Zemp. “Das ist eigentlich der wichtigste Teil.”

Experte wertet grundsätzlich positiv

Professor Fritz Osterwalder, Direktor des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Bern, kennt das Papier zwar nur aus der Presse. Grundsätzlich findet er aber wichtig, “dass der Lehrerverband darauf hinweist: die Religion gehört zur Geschichte der Schweiz und somit zum Gepäck, das alle erhalten sollten”.

Dann aber sei klar zu differenzieren: Die Werte, welche die Schule vermitteln will, hätten zwar religiöse Ursprünge. “Wichtig für eine zivile Gesellschaft ist aber heute, dass diese ungeachtet ihres religiösen Ursprungs oder Zusammenhangs geteilt werden können. Und in diesem Sinne sollten sie auch vermittelt werden.”

Ängste in der Bevölkerung

Während das Papier laut Zemp in den Verbands-Sektionen gut aufgenommen wurde, kam aus der Bevölkerung postwendend Kritik. Anstand, gerechtes Verhalten und Toleranz seien nicht religiöse Werte und könnten in der Schule auch ohne ideologischen Beigeschmack gelehrt werden, hiess es etwa.

Andere Leserbriefschreiber befürchteten ein falsches Signal an Kreationisten oder religiöse Fundamentalisten. Kritik, die Zemp so nicht gelten lassen will. “Die Leute, die das behaupten, haben das Papier nicht gelesen”, sagt er.

“Kreationismus oder Darwinismus werden mit keinem Wort gegeneinander ausgespielt. Im Papier steht lediglich, dass Religionen auch einen Teil der Werteerziehung ausmachen. Es braucht ein minimales Verständnis der eigenen und anderer Kulturen, um ein überkonfessionelles Wertesystem aufzubauen.”

Doch für Erziehungswissenschafter Osterwalder liegt hier eine Gefahr: “Die Auseinandersetzung um ein Berner Lehrmittel, wo Biologie in enge Umgebung von Religion gerückt wurde, zeigt gerade, wie vorsichtig man sein soll, hier nicht einen Schritt zurück zu machen.”

Trennung von Kirche und Staat

Ganz klar für Zemp und den Verband ist, dass die Trennung zwischen Kirche und Staat aufrecht erhalten wird. Deutlich äussert sich das Papier zu den Kompetenzen: “Die konfessionelle Bildung im Sinne der kirchlichen Lehren gehört nicht zum Leistungsauftrag der öffentlichen Schule.”

Weil aber das Zusammenleben von Menschen aus verschiedensten Kulturen gegenseitigen Respekt voraussetze, sei ein elementares Wissen über die anderen nötig. Bildung könne daher nie sachlich-neutral im strengen Sinn sein.

“Weder ein Lehrplan noch die einzelne Lehrperson kommen um wertegeleitete und damit im weiteren Sinne ‘konfessionelle’, gleich bekennende, Aussagen herum”, schreibt der Verband.

Gemeinsame Werte vermitteln

Das Papier kommt zur Empfehlung: “Es macht deshalb Sinn, im Lehrplan einen Bereich ‘Werte und Religionen’ zu reservieren.” Dafür seien spezifisch qualifizierte Lehrpersonen nötig.

Die konkrete Ausgestaltung sei Sache der Lehrplan-Behörden der Kantone, betont Zemp.

Es gehe dabei aber nicht um Religionsunterricht, sondern um Unterricht über Religionen. “Werteerziehung bedeutet, dass man über die verschiedenen Religionen schaut, was die gemeinsamen Werte sind.”

Die Religionen in der Schule liessen sich nicht völlig ausblenden, weil verschiedene Wertesysteme aufeinanderprallten, so Zemp. “Das kann zu Problemen führen. Und deswegen muss man mindestens die verschiedenen Religionen kennen und zum Beispiel wissen, warum im Ramadan gefastet wird oder was an Ostern passiert ist.”

swissinfo, Christian Raaflaub

Verschiedene Rechtstexte behandeln das Thema Schule und Religion.

Die Bundesverfassung kennt mehrere relevante Artikel, unter anderen die Chancengleichheit, Achtung und Schutz der Würde des Menschen und den Anti-Diskriminierungs-Artikel.

Ferner das Recht auf persönliche Freiheit, auf Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Schliesslich steht in der Verfassung, das Schulwesen sei Sache der Kantone.

Im Schweizerischen Zivilgesetzbuch sind drei Artikel relevant, die das Wohl des Kindes und dessen Erziehung im Elternhaus thematisieren, auch die religiöse.

Die UNO-Kinderrechts-Konvention hat einige Artikel, die im Sinne der Bundesverfassung sind. Auch hier wird das Wohl des Kindes und dessen Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit erwähnt.

In der Schweiz leben rund 80% Menschen christlichen Glaubens. 10% bekennen sich zu keiner Religion. In einigen Städten sind dies heute bis zu 30%.

Die Einwanderung verändert die Religionslandschaft zusätzlich. Zwar sind über 40% der Immigranten christlichen, doch fast ein Fünftel muslimischen Glaubens.

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