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Wilhelm Tell: Der Nationalmythos einmal anders

Wilhelm Tell - neu erzählt für Kinder. swissinfo.ch

Der renommierte Kinderbuchautor Jürg Schubiger nähert sich dem Mythenstoff auf spezielle Weise.

Ein älterer Mann erzählt die bekannteste Sage der Schweiz seinem Enkel. Dabei kommt auch die Rahmengeschichte mit aktuellen Lebensfragen nicht zu kurz.

Als ob es nicht schon genügend Erzählungen und Dramen über den berühmtesten Freiheitshelden der Schweiz, über Wilhelm Tell, gäbe: Von modernen Dramenbearbeitungen bis zu den von Generation gelesenen SJW-Heften wimmelt es von “heldenhaften” oder auch kritischen Nacherzählungen.

Und da kommt auch noch Jürg Schubiger mit einem kinderzimmertauglichen Nationalmythos. Doch der Autor fügt, wie man es von ihm kennt, einen Mehrwert hinzu.

Mittelalter und heute in neuen Farben

Schubiger lässt seinen etwa 9-jährigen Ich-Erzähler Ferien bei seinen Grosseltern in Altdorf verbringen. “Meine Mutter war froh, dass sie mich für vier Wochen in Altdorf abliefern konnte. Meine Grosseltern waren froh, dass ich zur Abwechslung einmal bei ihnen wohnte. Ich selber war beides, manchmal froh, manchmal unfroh.”

Der Grossvater schildert in seiner Erzählung die mittelalterliche Zeit in den Waldstätten auf farbige Weise, die wenigen Häuser im Dorf, in denen bittere Armut herrschte, das magere Vieh, das karge Essen. Schon der Beginn der Tellsage mit den beiden Männern, dem Krummen und dem Lahmen, welche den Gesslerhut bewachen, ist ein Meisterstück an genauer Beobachtung.

Im weiteren Verlauf der Geschichte identifiziert sich der kleine Ich-Erzähler gern mit dem etwas vorlauten Walter, Tells ältestem Knaben. “Mein Sohn spricht wie ein Buch”, dachte Tell, “das man nicht mehr zuklappen kann. Das hat er von seiner Mutter. Was er von mir hat, ist der Mut.”

Alle kennen den Verlauf der Sage: Tell wird abgeführt in die Burg nach Küssnacht am Rigi. Doch er rettet sich während eines Sturms mit einem Sprung auf die “Tellsplatte” und erschiesst den “rässen Junker” Gessler in der Hohlen Gasse. Gekonnt verschiebt der Grossvater diesen Schluss auf den 1. August in unserer Zeit.

Sagen und Legenden auf den Urneralpen

Walter hört in der Zwischenzeit vom Köhler und Holzbrenner Sepp auf einer Urneralp allerlei Sagen und erlebt die widerrechtliche Schlachtung einer Ziege durch seinen Onkel.

Der Ich-Erzähler erfährt, dass das Mittelalter eine Zeit vor allem “ohne” war, während unsere Zeit vor allem eine “mit”: Vanille- Eis mit Mandelsplittern, Shampoo mit Eis-Ei, wie der Grossvater lachend erklärt.

Die Sage vom “Toggeli”, welches sich einem Nachts auf die Brust setzt, beschäftigt den Jungen. Sein Heimweh und die Erinnerung an den ausgezogenen Vater setzen ihm zu, obwohl die Grossmutter einen Zauber dagegen weiss. Die erlösende Postkarte von Vater aus Kopenhagen birgt Hoffnung, aber der Autor lässt alles offen…

Jürg Schubiger hat mit diesem Kinderroman ein Buch geschrieben, das heutige Probleme mit denjenigen des Mittelalters verknüpft und Einblicke in die Mythenwelt der Gründung der Eidgenossenschaft vermittelt. Ein Kinderroman, der auch Erwachsenen gefällt.

swissinfo und Agenturen

Jürg Schubiger, Die Geschichte von Wilhelm Tell, Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München und Wien, 2003.

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