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Warum hilft die Schweiz bei Reformen in der Ukraine?

«Der Ukraine-Konflikt wird noch lange dauern»

Toni Frisch
Alt Botschafter Toni Frisch als Vize-Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes 2017 am Jahrestreffen des SRK. Ti-press

Der Schweizer alt Botschafter Toni Frisch sieht es nicht gerne, dass Kiew manche ausgetauschten Separatisten wieder verhaftet, sobald sie einen Fuss in den Westen setzen. Bundesrat Ignazio Cassis solle dies bei seiner Ukraine-Reise zum Thema machen.

Der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis reist vom 27. bis zum 29. Oktober in die Ukraine, unter anderem zur Vorbereitung der Ukraine-Reformkonferenz 2022, die am 4. und 5. Juli 2022 in Lugano stattfindet.

Korruption, mangelnde Rechtssicherheit und der Einfluss von Oligarchen behindern die wirtschaftliche Entwicklung und machen Reformen notwendig. Eine Revolution (Euromaidan) sowie ein noch immer schwelender bewaffneter Konflikt in der Ostukraine haben das Land zusätzlich belastet.

Am Anfang des Ukraine-Konflikts steht die Frage, ob das Land sich der EU oder Russland stärker anbinden soll. Der Kreml hätte unter anderem gerne gehabt, dass die Ukraine der Eurasischen Wirtschaftsunion beitritt. Doch vor allem in der Westukraine wünschte man sich ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Als die ukrainische Regierung die Vorbereitungen zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU aussetzte, kam es ab November 2013 zu Massenprotesten (Euromaidan). Das Parlament setzte den Präsidenten ab, die Regierung trat zurück. 

Im Februar 2014 marschierte Russland in der Krim-Halbinsel ein und annektierte diese nach einem umstrittenen Referendum einige Wochen später. Pro-russische Separatisten wollen darüber hinaus den Osten des Landes mit Waffengewalt von der Ukraine abspalten. Im Frühling 2014 riefen sie – ohne internationale Anerkennung und nach einem rechtswidrigen Referendum – die Volksrepubliken Donezk und Lugansk aus. In der Ostukraine herrschen seither kriegsähnliche Zustände zwischen moskautreuen Separatisten und den ukrainischen Streitkräften. Ein Ende des Konflikts ist nicht in Sicht.

Wir haben mit Toni Frisch, der als ehemaliger Botschafter und Koordinator der OSZE-Arbeitsgruppe für humanitäre Fragen unter anderem Gefangenenaustausche zwischen den Kriegsparteien vermittelte, über die aktuelle Situation gesprochen.

swissinfo.ch: Seit ein paar Monaten ist Ihr Mandat bei der OSZE als Koordinator der humanitären Hilfe in der Ostukraine ausgelaufen. Was können Sie nun offen sagen, was Ihnen schon immer auf der Zunge brannte?

Toni Frisch: Eigentlich habe ich immer offen gesprochen. Ich habe immer betont: Es gibt nicht nur schwarze Schafe im Osten und weisse im Westen, es gibt sehr viele hell- und dunkelgraue. Wenn Anlass bestand, habe ich alle Parteien kritisiert. Leider muss ich sagen: Die Ukraine hat das am allerwenigsten goutiert.

Die Zuständigen der selbsternannten Republiken Donetsk und Lugansk habe ich während all den Jahren dafür kritisiert, dass sie dem IKRK keinen Zugang zu den Gefängnissen im Osten gaben. Daran hat meine und die allgemeine Kritik zwar nichts geändert, aber mir persönlich wurde ab 2016 der Zugang zu den Gefangenen und die Möglichkeit von vertraulichen Gesprächen in den Gefängnissen von Donetsk und Lugansk gewährt.

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Kai Reusser / swissinfo.ch

Dass der Gefangenenaustausch blockiert wurde, war hingegen nicht etwa – wie in den Medien kolportiert wurde – die Schuld der Separatisten. Die Ukraine hat sehr viel dazu beigetragen und die Verzögerung mehrheitlich zu verantworten. Ich habe die Ukraine auch kritisiert für die Verhältnisse an den Grenzübergängen, wo die Leute sommers und winters stundenlang warten mussten. Es gab keine medizinische Versorgung, keine Toiletten und kein Zelt, wo man sich wärmen konnte. Dafür habe ich die Ukraine kritisiert und etwa sechs Monate später haben sich die Verhältnisse erheblich gebessert. Die Kritik hat also etwas gebracht. Das ist es, was ich schon immer sagen wollte.

Ist die Ukraine diese Kritik aus dem Westen nicht gewohnt, da dieser sich normalerweise mit ihr solidarisiert – hat sie deshalb jeweils pikiert reagiert?

Das ist sicher teilweise ein Grund. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum die Russen immer sagten, die OSZE sei nicht neutral. Man war sehr zurückhaltend mit Kritik an der Ukraine, aber sehr offensiv mit Kritik an Russland. Der Special Representative des OSZE Vorsitzes mit Sitz in Kiew hat sich nicht neutral verhalten und ist in die Rolle verfallen, möglichst alles, was die Ukraine tut, gutzuheissen.

Auch die Schweiz setzt sich stark für die Ukraine ein, die nächste Reformkonferenz findet in Lugano statt. Warum dieses besondere Engagement?

Es geht um einen schwelenden Konflikt mitten in Europa! Als kleines Land sind Sicherheit und Frieden in Europa für die Schweiz besonders wichtig.

Und es geht nicht bloss um einen lokalen Konflikt, sondern es ist auch eine Konfrontation zwischen Ost und West. An der Kontaktlinie in der Ostukraine prallen diese unterschiedlichen Interessen aufeinander. Ich bin verschiedentlich – auch von Botschafterinnen und Botschaftern europäischer Länder – gefragt worden: Ist das die neue Berliner Mauer? Meine Antwort war die, dass es zwar keine Mauer gibt, aber die Trennlinie ist sehr scharf und gut kontrolliert. Deshalb können neutrale Länder wie die Schweiz eine zentrale Rolle spielen.

Ist die Schweiz besonders glaubwürdig, weil sie weder EU- noch Nato-Mitglied ist?

Ja, das ist sicher eine Chance. Die Schweiz, die keine koloniale Vergangenheit hat und keinem Bündnis angehört, ist glaubwürdig, denn im Unterschied zu Grossmächten ist kein aussenpolitischer Druck zu befürchten.

Leider ist die Schweiz aktuell im Minsker Prozess, also in der OSZE, nicht mehr so prominent vertreten wie früher – wir stellten während drei Jahren den Generalsekretär sowie mehrere Spezialvertreter –, auch ich bin nicht durch eine Schweizerin oder einen Schweizer ersetzt worden. Ich bedaure es, dass die Schweiz hier keine Kontinuität erreichen konnte.

Ignazio Cassis reist vom 27. bis zum 29. Oktober in die Ukraine. Was sollte er ansprechen?

Die Reise ist in der Tat eine ausgezeichnete Gelegenheit, um auf höchster Ebene gewisse Dinge persönlich anzusprechen.

Ein Beispiel: Es ist vorgekommen, dass die Ukraine nach einem zäh ausgehandelten Gefangenenaustausch die Separatisten zwar freigelassen, manche Fälle aber juristisch nicht abgeschlossen hat. Diese Personen wurden daher auf der Website des Innenministeriums weiterhin als Gesuchte aufgelistet. Es ist sogar vorgekommen, dass freigelassene Separatisten aus Donezk oder Lugansk, die in der Ukraine Familienangehörige besuchten, wieder verhaftet wurden. Das ist eines Rechtsstaates nicht würdig.

Es wäre wichtig, dass Bundesrat Cassis das bei seinem Besuch ansprechen könnte. Allerdings muss er abwägen, ob er so weit gehen kann, ohne die zukünftige Zusammenarbeit mit der Ukraine zu gefährden.

Wegen Nord Stream 2 verliert die Ukraine ihre zentrale Rolle als Gas-Transitland. Inwiefern verändert das die Machtverhältnisse im Bürgerkrieg?

Es ist richtig, was Sie sagen. Die Ukraine sieht sich durch die Ostsee-Pipeline eher geschwächt und Russland in der Position als Lieferant gestärkt. Persönlich glaube ich aber nicht, dass Nord Stream 2 den Ukraine-Konflikt wesentlich beeinflussen wird.

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Die Ostukraine muss entmint werden, zudem sind die Separatisten-Republiken wirtschaftlich verarmt. Welche Rolle können da die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe spielen?

Um zu präzisieren: Vermint ist ein etwa zwei bis fünf Kilometer breiter Streifen entlang der Kontaktlinie, also der etwa 450 Kilometer langen «Grenze» zwischen Osten und Westen. Diese Zone ist stark vermint – und zwar von beiden Seiten. Das ist eine gewaltige Herausforderung – es geht vermutlich um Millionen von Minen – und eine kostspielige Sache. Wo die Mittel für die Entminung herkommen, ist eine offene Frage.

Die wirtschaftlichen Aussichten der selbstbezeichneten Republiken Donezk und Lugansk, also der Separatisten-Gebiete, sind eher trübe. Die Schweizer Ostzusammenarbeit ist nur im Westen der Ukraine tätig. Die Schweiz leistet zwar wie bereits erwähnt auf beiden Seiten humanitäre Hilfe, aber von einer Entwicklungszusammenarbeit kann nicht die Rede sein, dafür bräuchte es einen echten Waffenstillstand.

Ein solcher ist nicht in Sicht. Für mich ist klar, dass dieser Konflikt noch länger dauern dürfte, ich würde ihn als «tailor-made frozen conflict» bezeichnen, also als massgeschneiderten eingefrorenen Konflikt. Ich befürchte, dass die Separatisten-Gebiete zwischen Stuhl und Bank fallen. Letztlich wird der Westen aber doch gefragt sein und zur Kasse gebeten werden.

Angela Merkel war die Einzige, die Putin die Stirn bieten konnte. Was bedeutet ihr Abgang für die Ukraine?

Schön, dass Sie das so deutlich sagen. Die Ukraine hat in all den Jahren stark auf die Unterstützung Deutschlands gezählt, um die ukrainischen Interessen gegenüber Moskau durchzusetzen. Angela Merkel spielte eine zentrale Rolle im Normandie-Quartett [eine halb-offizielle Kontaktgruppe zwischen Russland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine zu Fragen des Ukraine-Konflikts, A.d.R.]. Es hat personelle Wechsel gegeben, von den damaligen Regierungsvertretern ist nur Putin übrig. Das schwächt ihn natürlich nicht – im Gegenteil.

Ich habe persönlich erlebt, was das hiess, als Deutschland 2016 den OSZE-Vorsitz hatte mit Angela Merkel als Kanzlerin und Walter Steinmeier als Aussenminister. Das war ein Tandem mit Power. Das hat den Prozess in Minsk massiv gestärkt. Wir konnten Schritte machen, die vorher und nachher nicht möglich waren. Diese Konstellation gab es seither leider nicht mehr – das sagt eigentlich fast alles.

Toni Frisch war ab 1977 zunächst in der humanitären Hilfe tätig, ab 1980 dann im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), wo er eine Karriere als Botschafter machte: Lange Jahre war er Delegierter für Humanitäre Hilfe und stellvertretender Direktor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Nach der offiziellen Pensionierung übernahm er für die OSZE das Mandat des Koordinators der Arbeitsgruppe Humanitäre Fragen in der Ostukraine.

In dieser Funktion reiste er von der Schweiz aus zwischen Mai 2015 und Juni 2021 fast alle zwei Wochen zwischen Bern, Minsk und Kiew hin und her. Der Beginn seines Engagements in der Ukraine liegt jedoch deutlich länger zurück. Nach der Explosion im Kernkraftwerk Tschernobyl war er vor Ort, um Programme für humanitäre Hilfe in der Ukraine, aber auch in Belarus durchzuführen. Daraus ergab sich ein enger Austausch mit hohen Funktionären der ehemaligen Sowjetunion, etwa mit Michail Gorbatschow.

Quelle: EDAExterner Link

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