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Rycheners und Mäders sechsjähriger Aufenthalt als Sklaven in Tunis

Kupferstich aus dem Buch Historie van Barbaryen en des Zelfs zee-roovers
Die spektakuläre Flucht des britischen Sklaven William Oakley von Algier nach Mallorca inspirierte Daniel Defoe zu seinem Erfolgsroman «Robinson Crusoe». Der Kupferstich stammt aus dem Buch «Historie van Barbaryen en des Zelfs zee-roovers» des Niederländers Pierre Dan von Amsterdam, 1684. PD. Bibliothèque nationale de France, BNF 88C1355355

Es gab zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert auch christliche Sklaven, die in Nordafrika meistens nur gegen Lösegeld freikamen – darunter waren um 1800 auch zwei Berner.

An Heiligabend 1796 befinden sich Söldner in neapolitanischen Diensten auf einem Schiff, das sie von Genua nach Neapel bringen soll. In der süditalienischen Stadt kommen sie aber nie an. Das Schiff wird von Piraten gekapert. Kapitän und Matrosen haben sich schon vorher, als sie das Unheil kommen sahen, abgesetzt und die Soldaten ihrem Schicksal überlassen.

Einer von ihnen, der damals 19-jährige Appenzeller Johannes Rohner, erinnert sich später: “Nur so viel wurde uns gelassen, dass wir unsere Blösse einigermassen bedecken konnten. Alle Tage und Stunden erwarteten wir den Tod.” Aber die Unglücklichen werden nicht getötet, sondern vielmehr nach Nordafrika verschleppt, nach Tunis. Lebend sind sie mehr wert, denn man will mit ihnen als Geiseln Geld verdienen. 

Der Appenzeller Bauernsohn Johannes Rohner, der sich bereits als 16-Jähriger als Söldner verdingt hat, ist nun ein christlicher Sklave in einem muslimischen Land. Ein anderer Appenzeller teilt sein Schicksal – und ein gutes Jahr nach ihrer Ankunft, im Januar 1798, stossen auch Berner zu ihnen, ein gewisser Johannes Rychener aus Kräiligen bei Fraubrunnen und ein Jakob Mäder aus Mühleberg.

Als die Berner in Tunis eintreffen, ist in ihrem Heimatkanton gerade eine Zeitenwende im Gang, die Alte Eidgenossenschaft geht nach dem Einmarsch der Franzosen unter, es beginnt die Epoche der Helvetik und später der Mediation.

Über die Umstände der Gefangennahme der Berner ist nichts bekannt, aber wahrscheinlich erging es ihnen als Söldner ähnlich wie dem Appenzeller Rohner. “Vermutlich wurden sie 1798 von einem Schiff, das unter genuesischer Flagge segelte, geraubt und standen wie die beiden Appenzeller als Söldner in neapolitanischen Diensten.”

Das zumindest vermutet Pascal Michel. Der Historiker und Journalist erzählt in seinem Buch “Zehn Jahre versklavt” die “vergessene Lebensgeschichte des Johannes Rohner”.

Kupferstich christliche Sklaven in Nordafrika
Christliche Sklaven in Nordafrika mussten teils harte körperliche Arbeiten im Kalkabbau oder im Bauwesen verrichten. Der Kupferstich stammt aus dem Buch «Historie van Barbaryen en des Zelfs zee-roovers» des Niederländers Pierre Dan von Amsterdam, 1684 PD. Bibliothèque nationale de France, BNF C214305)

Muslimische Piraten aus Nordafrika – auch Korsaren genannt – haben jahrhundertelang im Mittelmeer Angst und Schrecken verbreitet. Sie kaperten Handelsschiffe und unternahmen Raubzüge entlang der Küsten.

Die “Barbareskenstaaten” Algier, Tunis und Tripolis waren eigentliche Vasallenstaaten des Osmanischen Reiches, fragile Staatsgebilde, deren Geschäftsmodell vor allem Piraterie und Lösegelderpressung waren.

Haussklaven beim Herrscher

Zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert gerieten schätzungsweise gegen 1,25 Millionen europäische Christen in nordafrikanische Sklaverei, vor allem Söldner, Geistliche und Kaufleute.

Ein Teil wurde gegen Lösegeld freigekauft, andere mussten bis zu ihrem Lebensende Sklavendienst leisten, wieder andere konvertierten zum Islam und konnten so sozial aufsteigen und Familien gründen. 

Nicht alle versklavten Europäer erwartete indes das gleiche Schicksal: Während die einen als Hausklaven und Diener ein vergleichsweise erträgliches Leben führten, mussten andere harte körperliche Arbeit im Kalkabbau, im Bauwesen oder in Steinbrüchen verrichten.

Der Appenzeller Johannes Rohner hatte Glück: Er wurde zuerst Haussklave des Bey, des vom Osmanischen Reich geduldeten Herrschers von Tunis, später wurde er an einen konvertierten Christen weitergegeben.

Als Quelle bisher noch nicht besonders beachtet sind die Sklavenberichte von Schweizern, die nach ihrer Freilassung ihre Lebensgeschichten veröffentlichten. Neben dem Appenzeller Johannes Rohner (1777–1855) sind mindestens noch drei weitere Berichte bekannt.

Über keinen der ehemaligen christlichen Sklaven wissen wir jedoch mehr als über den Appenzeller Söldner Johannes Rohner. Er berichtete 1808 im “Appenzeller Kalender” über seine Zeit als Sklave, 1825 veröffentlichte er in der Zeitung “Bürger- und Bauernfreund” einen noch ausführlicheren Bericht.

Er beschrieb Entbehrungen und Verzweiflung sowie seinen Alltag; nicht zuletzt versicherte er dem Lesepublikum, dass er dem christlichen Glauben allen Drohungen und Anfechtungen zum Trotz treu geblieben sei.

Portrait vom Bey von Tunis Hammuda al Husain
Der Bey von Tunis, Hammuda al-Husain, war von 1782 bis 1814 Herrscher von Tunesien. Er verlangte für christliche Sklaven horrende Lösegelder. Bild: Porträt von Teodoro Viero (Ausschnitt), 1785. The Trustees of the British Museum

Auch die beiden Berner werden von harter körperlicher Arbeit verschont, wie Rohners Bericht zu entnehmen ist. Sie kommen wie der Appenzeller als Haussklaven zuerst zum “Bey”, arbeiten dort als Diener und vor allem im Garten.

Offenbar wurde ihr Arbeitseifer geschätzt, schreibt doch Rohner: “Die Berner und Deutschen waren meinem Herrn am liebsten, weil sie besser arbeiten konnten als die Matrosen oder Italiener.” In Rohners Bericht ist auch davon die Rede, dass der eine Berner von seinem Herrn dazu gedrängt worden sei, zum Islam überzutreten: “Aber der Berner weigerte sich standhaft und blieb unserem Erlöser treu.” 

Französische Vermittler

Das Buch des jungen Historikers ist akribisch recherchiert und ist spannend zu lesen. Besonders reizvoll: Die Langversion von Rohners Erlebnisbericht ist im Anhang vollständig abgedruckt. Pascal Michel hat unter anderem auch im Berner Staatsarchiv geforscht und Belege dafür gefunden, dass die Berner Behörden einiges unternahmen, um ihre versklavten Bürger in Tunis freizukaufen.

Michael Gabathuler, ein anderer Schweizer Historiker, der sich mit dem Thema befasst hat, kommt nach der Analyse von 52 Sklavenbiografien aus der Eidgenossenschaft zum Schluss, dass die Obrigkeit in nur 19 Fällen überhaupt konkrete Hilfe leistete.

Entscheidend war, dass die horrenden Lösegelder bezahlt werden konnten. Der Herrscher von Tunis forderte nämlich 2300 Gulden (in Bern damals etwa 3500 Franken) – ein gewaltiger Betrag, für den man damals drei staatliche Häuser hätte bauen können.  

Die Berner Regierung beauftragte, eingedenk des starken französischen Einflusses in Nordafrika, das Handelshaus August Bazin in Marseille mit den Verhandlungen. Als Unterhändler vor Ort fungierte ein französischer Oberst und Kaufmann namens Barthéz.

Grosse Spendenaktion

Wie aber sollte die grosse Summe von 7000 Franken für die beiden Berner aufbringen? Die Berner Behörden entscheiden sich für eine Sammlung im ganzen Kanton. In einem Zirkular vom 17. Januar 1804 an alle Amtsbezirke rief der Berner Justiz und Polizeirat zu Spenden aus der Bevölkerung für die versklavten Berner auf.

Im Zirkular KS1.46 heisst es, die Regierung sei “gerührt durch die traurige Lage der Unglücklichen”, und obwohl man sich “kräftigst” für sie eingesetzt habe, “so ist es doch bis jetzt unmöglich gewesen, ihre Befreyung auszuwirken, weil man das grosse Lösegeld, welches für sie gefordert wird, und das nach zuverlässigen Berichten über 3500 Franken beträgt, noch nicht hat aufbringen können.”.

Brief vom 18, Juni 1804, in dem das Handelshaus Bazin in Marseille
Brief vom 18, Juni 1804, in dem das Handelshaus Bazin in Marseille die Behörden Bern über den erfolgreichen Freikauf der Berner Slaven in Tunis orientiert. StaBE Circulare KS 1.46

Am Sonntag, dem 25. März, 1804 wurde im ganzen Kanton für die Berner Sklaven gesammelt, die Kollekten der Predigten dienten ebenfalls diesem Zweck. Die Spendenaktion war ein Erfolg, die Sammlung ergab über 7400 Franken.

Der Appenzeller Johannes Rohner erinnert sich in seinem autobiografischen Bericht, wie er im Sommer 1804 in Tunis mit einem “französischen Kaufherrn” ins Gespräch kam, der sich nach den Berner Sklaven erkundigte. Rohner erschrak, als er realisierte, dass von einem Freikauf der Appenzeller keine Rede war: “Nicht dass ich den Bernern ihr Glück nicht gern gegönnt habe, aber wir seufzen auch nach Freiheit.” 

Der Abschied von den Bernern verlief tränenreich. “Wir liefen einander in die Arme, wir weinten, küssten uns, drückten einander die Hände, und konnten nur die Worte hervorbringen: ‘Adio! Adio! Wir sehen uns nimmer mehr’.”

Am 19. Juni 1804 meldete das Handelshaus Bazin aus Marseille nach Bern, die Mission sei erfüllt. Der mit der Zahlung beauftragte Unterhändler Barthéz habe den Bey im Bardo-Palast in “bonne humeur” vorgefunden; und dieser habe das unterbreitete Angebot 3500 Franken pro Berner Sklave akzeptiert.

Die Berner wurden mit dem Schiff nach Marseille gebracht, und von dort aus – versehen mit Pässen und Reisegeld – ging es mit der Kutsche zurück nach Bern. Die beiden Appenzeller mussten sich noch zwei weitere Jahre gedulden, eine Sammlung im kleinen Kanton hatte nicht genügend Geld ergeben.

Erst durch den persönlichen Einsatz des französischen Konsuls in Tunis und die Vermittlung des neuen neapolitanischen Königs, eines Bruders von Napoleon Bonaparte, gelang schliesslich 1806 der Freikauf.  

Keine Starthilfe für die Berner

Vom weiteren Lebensweg der beiden Berner ist nichts bekannt. Wahrscheinlich kehrten sie in ihre Heimatdörfer zurück, verdienten ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft und gründeten Familien. Ob sie nach ihrer Rückkehr kurzzeitig Berühmtheiten waren, ob sie Schwierigkeiten hatten, sich zu Hause wieder zu integrieren, und ob sie die ehemaligen Appenzeller Schicksalsgenossen später wieder in der Schweiz trafen?

Auf diese Fragen geben die Quellen ebenso wenig Antworten wie auf jene, wieso sie im Unterschied zu Rohner keine, auch finanziell interessanten Lebensberichte verfassten.

Während die beiden Appenzeller von den Behörden je 200 Gulden erhielten, um sich in der alten Heimat eine Existenz aufzubauen, ist von einem Startkapital im Kanton Bern für Johannes Rychener und Jakob Mäder nichts bekannt. In Bern wurde der Restbetrag der Spendensammlung der Armenkommission des Kantons zur Verteilung unter die Notleidenden übergeben.

Die Söhne des Appenzellers Johannes Rohner wanderten übrigens später in die USA aus, angelockt vom Goldrausch in Kalifornien. Noch heute erinnert eine Siedlung namens “Rohnerville” an die Nachfahren des christlichen Sklaven.

 Pascal Michel: «Zehn Jahre versklavt». Die vergessene Lebensgeschichte des Johannes Rohner, Appenzeller Verlag, 128 S., 34 Fr.

>>>Dieser Artikel ist im Original am 25. April 2023 in der Zeitung der Bund erschienen.Externer Link

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