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“Abwanderung von Wissen” lohnt sich für alle

Ob sie aus Indien oder von anderswo stammen, die Forscher aus den Ländern des Südens bringen der Schweizer Wissenschaft viel. Keystone

Die wissenschaftliche Elite der Länder des Südens exiliert in den Norden, das ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass die Herkunftsländer von diesen oft kritisierten Wanderbewegungen profitieren können. Eine umfangreiche Studie beleuchtet das Phänomen.

Ob sie aus Indien oder anderswo her stammen, die Forscher aus den Ländern des Südens bringen der Schweizer Wissenschaft viel.

Migranten aus dem Süden sind nicht nur arme Arbeiter, die zu allem bereit sind, um der Misere zu entfliehen und um ihre zurückgebliebenen Familien zu unterstützen. Es kommen auch Studenten, Doktoranden, Professoren, Forscher oder Kaderleute in die Schweiz.

Attraktiv sind natürlich die besseren Lebensbedingungen und ein gesundes Umfeld, das der Kreativität, dem Wissen und der Vertiefung der Fachkenntnisse förderlich ist.

Der “Brain drain”, die Abwanderung der hochqualifizierten Arbeitskräfte, führt in den Herkunftsländern zu einem Aderlass der intellektuellen Elite, die dort doch so nötig wäre. Von diesem intellektuellen und menschlichen Kapital profitieren hingegen die Industrienationen.

Oft bleiben diese Menschen, nachdem sie sich über längere Zeit eingelebt und auch integriert haben, gerne im Gastland. So einfach spielt die Logik vom Geben und Nehmen.

Aber es ist nicht einfach Schicksal: “Wir schätzen diese Entwicklung durchaus optimistisch ein”, erklärt Gabriela Tejada, eine der Hauptverfasserinnen von “Les diasporas scientifiques comme partenaires du développement”, ein Wälzer mit über 500 Seiten, der eben erschienen ist.

“Die traditionelle Sichtweise ging davon aus, dass die qualifizierten Migranten ihrem Land nur dienen konnten, wenn sie zurückkehrten”, so die mexikanische Politologin, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der ‘Unité de coopération’ an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) arbeitet.

“Doch es gibt Mechanismen, die belegen, dass die Expatriierten ihren Herkunftsländern wichtige Beiträge vermitteln können, auch wenn sie physisch gar nicht präsent sind.”

Netzwerke

Das ist dieser “brain gain”, den die Autoren als “Technologie-, Kompetenz- und Wissenstransfer bezeichnen”. Um diese These zu verifizieren, haben sie sich für drei in der Schweiz aktive wissenschaftliche Gemeinschaften interessiert: die Kolumbianer, die Inder und die Südafrikaner.

“Uns interessierte der Beitrag der wissenschaftlichen Diaspora an der Entwicklung der drei Länder aus drei Kontinenten”, so Gabriela Tejada.

So wurden die ausgewanderten Wissenschafter aus Indien und Südafrika von ihren Regierungen ersucht, bei den Verhandlungen für wissenschaftliche Abkommen mit Bern als Experten zu fungieren. Indien und Südafrika gehören zu den prioritären Ländern, mit denen die Schweiz eine bilaterale wissenschaftliche Zusammenarbeit unterhält.

Die Wahl von Kolumbien hat sich von Anfang an aufgedrängt. “Die exilierten Kolumbianer haben unter dem Namen “Caldas Network” das weltweit erste wissenschaftliche Diaspora-Netzwerk geschaffen, das alle ausgewanderten Forscher mit ihrem Land verbindet. Die Schweiz ist einer der wichtigen Knotenpunkte”, erzählt Gabriela Tejada.

Seit rund zwanzig Jahren fördert die kleine kolumbianische Wissenschaftsgemeinschaft in der Schweiz Projekte, die die Zusammenarbeit und den Austausch mit der alten Heimat pflegt, und dies anfangs ohne Unterstützung der Behörden.

“Trotzdem ist es der Gemeinschaft gelungen, in gewissen, sehr wichtigen Bereichen für die Entwicklung Kolumbiens eine kritische Masse zu erreichen. Zu erwähnen wären der Umweltschutz, die Medizin und die Kommunikationstechnologien”, so die Politologin.

Die Erfolge schaffen eine Dynamik, was dazu führt, dass wieder neue Studenten aus Kolumbien zu uns kommen und so den Nachwuchs sichern. Den grössten Nutzen hat die Schweiz. Es profitieren aber auch Kolumbien, Indien oder Südafrika.

Nur Gewinner

Der “brain gain” von Indien und Südafrika resultiert aus der Biotechnologie, der Informatik und vor allem der Medizin.

Die meisten der in der Studie aufgelisteten Initiativen stammen von den ausgewanderten Wissenschaftern selbst. Dank des Erfolges wurde eine Finanzierung durch die Behörden des Herkunftslandes oder der Schweiz möglich.

So unterstützt das Staatssekretariat für Bildung und Forschung seit 2007 ein bilaterales Programm zwischen der Schweiz und Südafrika. Das Spektrum an Disziplinen ist breit und für beide Seiten interessant, es reicht von der öffentlichen Gesundheit bis zur Nanotechnologie. Diese Initiative wurde von in der Schweiz ansässigen südafrikanischen Wissenschaftern angeregt.

In diesem Spiel scheinen alle auf der Gewinnerseite zu sein. Die Autoren der Studie jedenfalls sind davon überzeugt. Deshalb ist es nötig, diese oft individuellen und informellen Initiativen weiter zu entwickeln, damit sie eine bessere Unterstützung durch die Behörden erhalten. Der erste Schritt ist folglich, sie bekannt zu machen.

“Unserer Studie bringt etwas Neues”, unterstreicht Gabriela Tejada. “Man spricht von den Deutschen in Zürich, den Franzosen und den Amerikanern am Genfersee, doch nicht von den Eliten aus den Ländern des Südens. Dabei ist diese Gruppe sehr interessant: Es handelt sich um bestens integrierte Gemeinschaften, die zur Dynamik und Produktivität der Schweiz sehr viel beitragen.”

Marc-André Miserez, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Christine Fuhrer)

Les diasporas scientifiques comme partenaires du développement. Migrants qualifiés de Colombie, d’Inde et d’Afrique du Sud : preuves empiriques et réponses politiques, Gabriela Tejada et Jean-Claude Bolay, Verlag Peter Lang, 513 Seiten.

Zusammenarbeit: Die Studie wurde in Zusammenarbeit mit der “Unité de Coopération” der ETH Lausanne, dem BIT (Bureau internationale de travail) und dem Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien, Neuenburg, den Universitäten Lausanne und Genf und dem internationalen Universitätsnetz Genf durchgeführt.

Interviews: Das Kernstück des Werks ist eine Reihe von ausführlichen Interviews, die zwischen 2006 und 2007 in Genf, Lausanne, Bern, Zürich und Basel mit 76 Vertreterinnen und Vertretern der wissenschaftlichen Diasporas von Kolumbien, Indien und Südafrika durchgeführt wurden. Diese Personen setzten sich aus Professoren, Doktoranden und Forschern, Kaderleuten aus internationalen Organisationen sowie aus Managern und Beratern aus dem privaten Sektor zusammen.

Wirtschaftsführer: Nahezu 60% der Führungspositionen in den SMI-kotierten Unternehmungen (Schweizer Market Index, der wichtigste Index der Schweizer Börse) sind mit Ausländern besetzt.

Hochschulen: 45% der Professoren sind Ausländer.

EPFL: Ein gutes Beispiel für die Multikulturalität: Mehr als 100 Nationalitäten sind auf einem Campus mit 10’000 Personen vertreten, 70% der Doktoranden und mehr als 50% der Professoren sind Ausländer.

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