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Migration nützt mehr als humanitäre Hilfe

Ausreise oder Ausharren im Land? Afghanische Flüchtlinge 2002 im Lager Maslakh, das von der International Organisation of Migration (IOM) betreut wurde. Keystone

Am Beispiel Afghanistan formuliert der Schweizer Ethnologe Alessandro Monsutti eine provokative These: Migration ist effizienter als allgemeine humanitäre Hilfe.

Der Ethnologe regt darum an, dass die internationale Gemeinschaft echte Hilfe leisten könne, indem sie Migration unterstütze.

“Die Bevölkerung Afghanistans hat nur zu einem kleinen Teil dank der humanitären Hilfe aus dem Ausland überlebt”, sagt Alessandro Monsutti. “Am meisten zu ihrem Überleben beigetragen haben die Afghanen selbst.”

Der Ethnologe und Dozent am IUED (Institut universitaire d’études de développement de Genève) denkt kritisch über das Verhältnis zwischen humanitärer Hilfe und Entwicklung nach. Und kommt zu einem provokativen Schluss: Die Hilfe hat mitunter gar fragwürdige Auswirkungen auf die Entwicklung eines Landes.

Beispiel Kabul

Afghanistan-Spezialist Monsutti führt als Beispiel Kabul auf: “Wegen der Immobilienspekulation sind die Mieten heute dort so hoch wie in Genf.” Weil sich die Besitzer der Häuser im Ausland befänden, fliesse das Geld aus Afghanistan ab.

“Zudem leidet die lokale Wirtschaft unter den sich konkurrenzierenden ausländischen Hilfsorganisationen.” Deren Hilfe untergrabe teilweise die Legitimität des afghanischen Staates – die Rückgabe der Verantwortung an die lokalen Behörden zeichne sich aber nicht ab.

Gestiegene Mieten führen zur Schliessung von Kinderheimen

Alessandro Monsuttis Sicht der Dinge wird untermauert durch Fakten der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Während sich 1999 noch 46 ausländische Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) in Afghanistan befanden, stieg ihre Zahl 2002 nach dem Sturz der Taliban auf 350 an.

Wegen der massiven Lebensmittelhilfe, die ohne Bedürfnisabklärung erfolgte, seien nicht nur die örtlichen Bauern, sondern auch lokale Hilfswerke geschwächt worden. So mussten laut dem “World Desaster Report 2003” der Internationalen Rotkreuz-Föderation wegen der hochgetriebenen Mietpreise etwa Heime für Strassenkinder schliessen.

Auf lokale Ressourcen bauen



Ausländische Hilfe kann demnach bestehende Strukturen in einem Land schwächen. Dies ist umso schlimmer angesichts der Tatsache, dass laut Monsutti nicht die humanitären Konvois mit Nahrung die Hungersnot in Afghanistan gelindert haben, sondern die Landsleute selbst.

Deren Anpassungsfähigkeit an schwierige Lebensumstände werde häufig unterschätzt. Die internationalen Geldgeber müssten in Zukunft vermehrt auf lokale Gegebenheiten Rücksicht nehmen und auf lokale Ressourcen aufbauen. “Wir haben gegenüber der afghanischen Bevölkerung eine Lektion in Bescheidenheit zu lernen”, so das Fazit.

Migration als Weg zur Selbsthilfe



Ein Weg zur Selbsthilfe wird weltweit wie auch in Afghanistan gewählt: Migration. Monsutti verweist darauf, dass das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge und die Internationale Organisation für Migration (IOM) dieses Phänomen als wichtig für Gesellschaft und Wirtschaft zu würdigen beginnen.

Laut Schätzungen beträgt die internationale Entwicklungs-Zusammenarbeit nämlich “nur” 50 Mrd. Dollar pro Jahr. Die Bargeldüberweisungen der Emigranten aus Entwicklungsländern in ihre Heimat hingegen belaufen sich gemäss Weltbank auf 95 Mrd. Dollar– die Internationale Organisation für Migration spricht sogar von 200 bis 300 Milliarden.

Geld wird per Telefon überwiesen



“Die Bargeld-Überweisungen aus dem Ausland funktionieren auch in Afghanistan sehr gut”, führt Monsutti aus. Der genaue Betrag der Rückflüsse lässt sich zwar kaum benennen.

Fest steht aber, dass das Geld an seinen Bestimmungsort gelangt – ohne Banksystem. Es wird von Hand zu Hand oder auch per Telefon überwiesen, wobei das soziale Netz und Vertrauen eine massgebliche Rolle spielen.

“Die internationale Gemeinschaft muss einsehen, dass Migration normal ist”, fordert Monsutti. Dass sie darüber hinaus auch effizient sein kann, führt er in seinem Buch “Guerres et migrations. Réseaux sociaux et stratégies économiques des Hazaras d’Afghanistan” aus.

Der Ethnologe regt darum an, dass die internationale Gemeinschaft echte Hilfe leisten könne, indem sie die Migration unterstütze.

swissinfo und Fabrice Boulé/Dominique Schärer, InfoSüd

“Guerres et migrations. Réseaux sociaux et stratégies économiques des Hazaras d’Afghanistan” (Doktorarbeit, Editions de L’Institut d’ethnologie de Neuchâtel, Paris 2004).

Am Beispiel Afghanistan formuliert der Schweizer Ethnologe Alessandro Monsutti eine provokative These: Migration ist effizienter als allgemeine humanitäre Hilfe.

Der Ethnologe regt darum an, dass die internationale Gemeinschaft echte Hilfe leisten könne, indem sie die Migration unterstütze.

Laut Schätzungen beträgt die internationale Entwicklungs-Zusammenarbeit “nur” 50 Mrd. Dollar pro Jahr. Die Bargeld-Überweisungen der Emigranten aus Entwicklungsländern in ihre Heimat hingegen belaufen sich gemäss Weltbank auf 95 Mrd. Dollar.

Die Internationale Organisation für Migration spricht sogar von 200 bis 300 Milliarden.

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