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Das alte Rom – ein Integrationsvorbild

Dominant, aber integrierend: Die Römer. (V.l.n.r.) Vindonissa-Museumsleiter René Hänggi, der Centurion Fortunatus, und Museumsführerin Gorana Nydegger. swissinfo.ch

Archäologische Funde betrachten, um Zeitgemässes zu verstehen! Das Vindonissa-Museum in Brugg stellt Funde aus der Römerzeit vor, welche die damalige Mobilität und Globalisierung, aber auch die Integration der vielen Völker ins Imperum Romanum zeigen.

Aus-, Einwanderung, Globalisierung, Ausländer-Integration, Personenfreizügigkeit: Schlüsselworte der politischen Auseinandersetzung der Gegenwart – und dennoch vor 2000 Jahren schon einmal dagewesen.

“Erstmals haben wir in Brugg zusammen mit deutschen und österreichischen Partner-Museen Fremdheit und Migration zu einem Ausstellungsthema der Römerzeit gemacht”, sagt Museumsleiter René Hänggi gegenüber swissinfo.ch.

Brugg und Windisch im Aargau liegen bei der ehemaligen römischen Legionärs- und späteren Handelsstadt Vindonissa. Funde aus dieser Region, aber auch aus Baden-Württemberg, Xanten am Niederrhein und Hainburg an der Donau erzählen in dieser Ausstellung von Mobilitäts-Schicksalen, Personen, Produktionsauslagerungen, Militärkarrieren und von der “so gut wie unerforschten Seite der Integrationsgeschichte Roms”, so Hänggi.

Bereits im Brugger Ausstellungskonzept als Partner vorgesehen war auch die kantonale Anlaufstelle für Integrationsfragen, “Integration Aargau”. Sie stellt sicher, dass rund zehn in der Region wohnhafte Türken, Albaner, Kroaten, Spanier, Italiener und Zentralamerikaner die Besucher durchs Museum führen und den Bezug der 2000jährigen Funde zur heutigen Zeit herstellen.

Keine Ausländer im Imperum

Im Inneren des römischen Reichs standen sich bis 212 nach Christus nicht In- und Ausländer, sondern privilegierte römische Bürger einerseits und jeweils einheimische Stammesangehörige andererseits gegenüber.

Der römische Bürger fühlte sich sowohl in Rom als auch in den Provinzen zu Hause. Er besass sämtliche Rechte, konnte Verträge abschliessen, etc. Als Fremde empfand er aber die jeweiligen (eroberten) Einheimischen, weil sie das römische Bürgerrecht nicht besassen. “Eine Einstellung, die heute fast nicht nachvollziehbar ist”, so Hänggi: Der (fremde) Römer war als Eroberer zu Hause, die Einheimischen hatten sich anzupassen – heute ist es umgekehrt!

Doch 212 nach Christus wurde diese Diskriminierung, wohl weil sie nach vielen Jahrzehnten der Integration kaum noch Sinn machte, abgeschafft und das Bürgerrecht an alle freien Inländer vergeben (aber nicht an Sklaven). “Vom Integrationseffekt her gilt das römische System als einzigartig in der Geschichte”, sagt Hänggi dazu.

Gefühle ermöglichen Zeitsprünge

In der Ausstellung werden solche Integrations-Migrantenschicksale anhand von drei fiktiven Personen, Fidelis, Fortunatus und Acisius gezeigt. In ihrem Videoporträt erzählt die (ursprünglich kriegsgefangene) Sklavin Fidelis, dass sich ihr Käufer in sie verliebt hat und ihr die Freiheit schenkt.

Der aus Nordafrika stammende Centurio-Offizier Fortunatus erzählt, wie ihn seine Karriere durch das ganze Imperium und auch nach Vindonissa geführt hat. Und Acisius berichtet von seiner Produktionsauslagerung in den Osten.

Neben den Bildschirmen mit den bewegenden Porträts aus der Antike stehen heutige Reisekoffern, heutige Esswaren aus Teilen des ehemaligen Imperums, Autobahn-Wegweiser auf dem Fundament alter Römerstrassen und ähnliches. Fidelis konnte als Kriegsgefangene nichts von zuhause mitbringen, und es fehlt ihr die Familie.

Fortunatus jedoch kann sich mit seiner Familie jeweils häuslich einrichten und lässt sich Lebensmittel aus seiner Heimat bringen, gibt aber zu, dass er nachts oft vom warmen Nordafrika träumt.

“Die Ausstellung will die Gefühle des Betrachters ansprechen”, sagt Gorana Nydegger, eine der zehn Führerinnen und Führer mit Migrationshintergrund. Es habe sogar Leute gegeben, denen die Tränen kamen, weil sie ihre persönlichen Erfahrungen mit den Schicksalen jener Leute verglichen, die es vor 2000 Jahren als Fremde nach oder weg von Vindonissa verschlagen hatte.

Das sei Museumsstoff, mit dem man sich identifizieren könne, so Nydegger, die selbst aus Kroatien, der ehemaligen römischen Provinz Illyrien, stammt. Hänggi und Nydegger empfinden dies als den grössten Erfolg dieser Ausstellung. “Normalerweise kommen Museumsbesuchern keine Tränen, wenn sie archäologische Funde betrachten.”

Bis 80% der ausländischen Bewohner der Schweiz könne sich auf Wurzeln im Imperum Romanum berufen – habe also dieselbe Geschichte wie die Schweizer, sagt Hänggi. In dieser Ausstellung könne der heutige ausländische Besucher seine eigene Geschichte neu erleben, und dem heutigen Schweizer wird gezeigt, dass damals auch er dazu gehört hat.

Noch globaler als heute?

Von der Türkei über ganz Nordafrika, bis Portugal, Britannien zum heutigen Deutschland, der Donau entlang bis zum Schwarzen Meer war alles einem einzigen Reich, dem Römischen, einverleibt. Dessen Standardisierung ging auch aus heutiger Sicht sehr weit: Strassennetz und Infrastrukturen, zwei Hauptsprachen, Lateinisch und Griechisch, Schulsystem, Rechts-, Postwesen, Städtebau, Armee-Strukturen, Währung, Produkte und ein römischer Lebensstil, den viele Nichtrömer noch so gerne annahmen und sich damit integrierten.

Inwiefern es damals schon Globalisationsgegner gab, ist nicht bekannt. Aber Auslagerungen gab es schon. In der Ausstellung erzählt der Sohn des rätischen Töpfers Acisius in seinem Videoporträt, dass er mit seinem Vater aus Rätien (Nordostschweiz) nach Pannonien ausgewandert sei, weil in der Heimat die Nachfrage nach Töpferwaren zusammenbrach.

Auslagerung der Produktion

Seinem erzählten Schicksal zugrunde liegt ein echter Fund aus Oberpeiching, Bayern, nämlich die Graburne eines Acisius. Der Name war in Rätien als Töpfereibetrieb bekannt. Ursprünglich Rätier, aber ohne römisches Bürgerrecht, hatte Acisius seine Produktion nach Pannonien ausgelagert. Dazu brauchte er aber einen Römer als Garanten, um über seine Provinz hinaus rechtsgültige Verträge im ganzen Imperum für seine Ware schliessen zu können.

Arcisius’ Sohn erzählt weiter, er habe zwar die Graburne seines Vaters nach Rätien zurückgebracht, weil dieser sich in Pannonien trotz allem fremd gefühlt habe. Er, der Sohn, praktisch ein “Secondo”, kehre aber nach Pannonien zurück, weil dies inzwischen seine Heimat geworden sei.

Die Sonderausstellung “Überall zu Hause und doch fremd – Römer unterwegs” ist vom Vindonissa-Museum in Brugg zusammen mit Museen in Baden-Württemberg, Xanten und Niederösterreich entstanden.

Wie heute gab es auch in römischen Zeiten Menschen, die ihre Heimat verliessen, um in der Fremde zu leben.

Jedes in Brugg ausgestellte archäologische Fundstück zeigt den Museumsbesuchern ein römisches Migrantenschicksal.

Die Objekte stammen aus der Schweiz, Deutschland, Österreich und den Niederlanden.

Sie geben neue Einblicke zur Mobilität und Migration in römischer Zeit.

Die Ausstellung bleibt noch bis 13. Mai in Brugg und wandert dann weiter nach Deutschland und Österreich.

Bis zu 80% der in der Schweiz niedergelassenen Ausländer kommen aus Gebieten des Imperum romanum, in dem bereits damals Integrationspolitik betrieben wurde.

Im Zeichen der heutigen Integrationspolitik liessen sich deshalb in den Schulklassen der Schweiz Vergleiche zwischen dem damaligen Helvetien und anderen römischen Regionen machen, schlägt Museumsleiter René Hänggi vor.

Zum Beispiel an Hand der Grösse der Amphitheater, die oft heute noch stehen.

“Für Schweizer Kinder wäre dies wohl eine grosse Überraschung”, da zum Beispiel ein tunesischer Klassenkamerad für El Djem ein viel grösseres Amphitheater aufführen kann als es in Augusta Raurica (Augst), Vindonissa (Windisch/Brugg) oder sogar in Avenches oder Genf je gab.

Mit einem Schmunzeln fügt Hänggi bei: “Auch im innerhelvetischen Vergleich waren Turicum, Vindonissa oder Augusta mit bescheideneren Bauten ausgestattet als Avenches oder Genf. Die Romands können sich also im Vergleich zu den Deutschschweizern mit ihrer wichtigeren Rolle im Imperum brüsten.”

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