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Glücklichtraurig: Annemarie von Matt

Annemarie von Matt: "Iselin", 1941. (Bild: Nidwaldner Museum) Annemarie von Matt: "Iselin", 1941. (Bild: Nidwaldner Museum)

Das Nidwaldner Museum zeigt erstmals eine umfassende Ausstellung zu Annemarie von Matt. Eine bedeutende Schweizer Künstlerin, die es zu entdecken gilt.

“Annemarie von Matt – Einblick in meine Unterwelt” zeigt rund 200 Werke und bezeugt von Matts Sammelleidenschaft.

Dreissig Jahre ist es her, seit die bisher einzige monographische Ausstellung mit Werken von Annemarie von Matt in Luzern stattfand. Fritz Billeter, renommierter Kulturjournalist sprach damals von einer “Wiederentdeckung”.

Annemarie Wer?

Seither floss wiederum viel Wasser in den Vierwaldstättersee, und die grosse künstlerische Anerkennung blieb Annemarie von Matt bis heute verwehrt. Zwar wurden immer wieder einzelne Werke der Künstlerin in Ausstellungen einbezogen, zum Beispiel in Harald Szeemanns Wanderausstellung “Visionäre Schweiz”. Doch einem grossen Publikum ist sie unbekannt.

“Dabei”, sagt Regine Helbling, eine der beiden Kuratorinnen im Nidwaldner Museum, “hat diese spannende Künstlerin in der Schweizer Kunst-Geschichte einen Platz verdient”. Und so stehen wir denn in Stans – im Schatten des Stanserhorns – im Museum und staunen ob dem grossen Werk der Annemarie von Matt.

Vom Kindermädchen zur Künstlerin

Geboren wurde Annemarie Gunz 1905 in Root im Kanton Luzern, als drittes von sieben Kindern. Ein wildes Mädchen soll sie gewesen sein, das gerne gezeichnet hat. Sie besucht keine sieben Jahre die Schule und tritt dann verschiedene Anstellungen als Kindermädchen an. Eine künstlerische Ausbildung ist für sie, eine junge Frau aus einfachsten Verhältnissen, nicht vorgesehen.

Doch die Marie, eine eindrückliche Schönheit und hungrig auf Leben, auf Abenteuer, steht bald im Atelier als Aktmodell. Die Goldschmiedin Martha Haefeli wird ihre erste Lehrerin. Und jetzt wird die Marie zur Annemarie. Erste Textilarbeiten, erste Wandbehänge, erste Zeichnungen.

Die wilden 20er in der Innerschweiz

Es sind längst nicht nur die grossen Metropolen wie Paris, London, New York, deren Herzen in Aufbruchstimmung sind. Die goldenen Zwanziger Jahre strahlen bis in die Innerschweiz. Hier werden gleichwohl verkrustete Konventionen überwunden, das Lustprinzip gefeiert, die Kunst gelebt.

Hier fühlt sich Annemarie wohl, hier lernt sie auch ihren späteren Mann und Mentor Hans von Matt (1899-1985) kennen. Sie ist Teil der jungen wilden Innerschweizer Künstlerszene.

Ende der Zwanziger Jahre findet sie Aufnahme im Schweizer Werkbund, später in der Gesellschaft Schweizerischer Malerinnen, Bildhauerinnen und Kunstgewerblerinnen (GSMBK). Sie findet immer mehr öffentliche Beachtung, erhält Aufträge, gestaltet eine FHD (Frauenhilfsdienst)-Briefmarke, beginnt mit der Ölmalerei, setzt sich mit der Volkskunst auseinander.

Offenes Haus und ein Grossereignis

1936 heiratet Annemarie den Hans und heisst fortan von Matt. Die beiden führen ein offenes Haus, reisen viel, laden Freunde ein, diskutieren über Kunst. Seit längerem ist das Ehepaar von Matt mit dem katholischen Priester und Schriftsteller Josef Vital Kopp bekannt.

Am 21. Juli 1940 reitet der Feldprediger Josef Vital Kopp in Uniform hoch zu Ross auf dem Stanser Dorfplatz ein. Die Marschmusik spielt. Für Annemarie hält die Welt inne, der Priester wird zum Mann, zum begehrten Objekt. Das Grossereignis, wie Hans von Matt das Verhältnis später benennen wird, hat begonnen.

Verbotene Amour fou

Die verbotene Liebe lodert heiss, draussen in der Welt ist Krieg und Annemarie von Matt findet zur Sprache, findet einen neuen Ausdruck, findet sich und verliert sich zugleich.

Ein Briefwechsel beginnt, der bald schriftstellerische Qualitäten erreicht. Die Amour fou löst das innere Alphabet der Annemarie von Matt, wirbelt Sätze, Gedanken, Syntax, Grammatik durcheinander und findet sich in Gedichten, auf Zetteln, in Briefen, neu.

Doch auch die Malerin von Matt befreit sich, streift wieder einen Kokon ab. Die Zeichnung “Iselin” von 1941 zeigt ein auf dem Bauch liegendes Mädchen. Rosa sind die Pobacken, rosa angehaucht die Brustwarzen, rosarot die Bäckchen, rot der Mund. Kokett erotisch die grünen Schleifen im Haar.

Neben dem schriftstellerischen und dem malerischen Werk setzt sich Annemarie von Matt mit der Plastik auseinander. Skulpturen, Material-Assemblagen und Gegenstände werden oftmals mit Texten ergänzt, verziert, um- und weitergedeutet.

Rückzug

Die unglückliche Liebe, von der ihr Ehemann erst nach ihrem Tod erfährt, ihr Schaffen, das zwischen Chaos, Kreativität und Eros oszilliert und der langsame, stufenweise Rückzug aus der Gesellschaft wird für Annemarie von Matt immer wichtiger.

Sie will allein sein und arbeiten, keinen Haushalt mehr führen. Sie will sammeln und beschriften, alles symbolisch aufladen, jedem Ding einen Namen, einen Ort, einen Platz geben.

Das “Stacheldrahtherz” von 1945, das “sublimierte Herz” von 1946, die “Daphne” von 1962 – eine Holzskulptur – zeugen von einer immer radikaler werdenden Formensprache. Gleichzeitig nimmt ihre Sammel-Leidenschaft fast manische Züge an. Katzen-Nabelschnüre, Poulet-Wirbelknochen, Bleistift-Abfälle – nichts ist ohne Bedeutung.

Fast fünfzehn Jahre lang geht Annemarie von Matt kaum mehr aus dem Haus, verwahrlost zusehends, wird von den Kindern als Hexe verlacht. Ihr Ehemann Hans von Matt lebt in der Nähe, ein Zusammenleben ist längst nicht mehr möglich. 1967 stirbt Annemarie von Matt.

Der Nachlass wird zugänglich

Hans von Matt beginnt – in rührender Kleinarbeit – den Nachlass seiner Frau zu sichten, birgt Gedicht um Gedicht, entdeckt das “Grossereignis” und gibt es noch nicht der Öffentlichkeit preis. Aus Rücksicht.

Ab 1995 ist es soweit, der Nachlass wird zugänglich. Es ist das Verdienst der Co-Leiterinnen des Nidwaldner Museums, Regine Helbling und Marianne Baltensberger, welche nun das umfangreiche Werk dieser faszinierenden Künstlerin erstmals so umfassend dem Publikum vorstellen. Die Ausstellung hat ein grosses Publikum verdient. Die Künstlerin noch mehr.

swissinfo, Brigitta Javurek

Annemarie von Matt, geboren 1905 in Luzern
Nach sieben Jahren Volksschule beginnt sie als Kindermädchen zu arbeiten
In den 20er Jahren findet sie Anschluss an die künstlerische und intellektuelle Szene in der Innerschweiz
Die Autodidaktin beginnt mit Textilkunst, später mit Heiligen- und Mariendarstellungen
1936 Heirat mit Hans von Matt
1940 Bruch in der Arbeit. Amour fou mit dem Priester und Schriftsteller Josef Vital Kopp
Schriftstellerisches Coming-Out, Briefe, Gedichte, erotische Malerei, Plastisches Werk
Ab den Fünfziger Jahren stufenweiser Rückzug aus dem öffentlichen Leben
Langsame Verwahrlosung, obsessives Sammeln, Beschriften
1967 Tod der Künstlerin

Zur Ausstellung ist eine ausführliche Begleitpublikation erschienen. Annemarie von Matt 1905 – 1967, Benteli Verlag. Mit Beiträgen u.a. von Beatrice von Matt-Albrecht, Jean-Christophe Ammann, Fabrizio Brentini, Sibylle Omlin.

Radio DRS1 hat mit “Was tatsächlich geschieht ist nie von Belang”, Einblicke in die Unterwelt der Annemarie von Matt eine hörenswerte Hör-CD geschaffen. Erhältlich im Radio-Kiosk.

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