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Kulturaustausch in Zeiten der Revolution

In den letzten Jahren sind in Kairo viele Jugendbands entstanden, wie die Weltmusikgruppe Wust El Balad. wustelbaladband.com

"Zur Zeit blüht im ganzen Land spontan improvisierte Strassenkunst", sagt Hebba Sherif, Leiterin von Pro Helvetia in Kairo. In Zürich hat sie zwei Monate nach dem Sturz von Präsident Mubarak über Aufbruch und Stagnation im ägyptischen Kulturfrühling berichtet.

Als am 25. Januar auf dem Tahrirplatz der Anfang vom Ende der Ära Mubarak eingeläutet wurde, standen Hebba Sherif und ihr Team in Kairo in den letzten Vorbereitungen für das Internationale Theaterforum in Alexandria, an dem auch Schweizer Künstler eingeladen waren.

Das Theaterforum hätte wenige Tage später eröffnet werden sollen. Dazu ist es nicht mehr gekommen.

“Zahlreiche Kulturveranstaltungen wurden abgesagt oder verschoben”, sagt Hebba Sherif zwei Monate später an einem Mediengespräch am Hauptsitz der Kulturstiftung Pro Helvetia in Zürich.

Wie viele andere Bereiche des Alltags ist auch der Kulturbetrieb während den Demonstrationen fast vollständig zum Erliegen gekommen. Das Pro-Helvetia-Verbindungsbüro in Kairo blieb für Wochen geschlossen.

Kunst reagiert auf politische Zustände

Inzwischen blüht die Strassenkunst auf öffentlichen Plätzen, was früher verboten war. In kurzer Zeit improvisierte Theaterperformances reagieren auf die neuen politischen Zustände.

“Das hat allerdings kein hohes künstlerisches Niveau und ist nicht die Art Kunst, die Pro Helvetia unterstützt”, erklärt Sherif. Zahlreiche Kulturschaffende seien blockiert: “Die Revolution ist noch zu nah. Für eine tiefergehende künstlerische Arbeit ist jetzt nicht der richtige Moment.”

Die Kulturvermittlerin sieht die Entwicklung in ihrem Land optimistisch, ist sich aber der Gefahr von Rückschlägen bewusst. Auf die Muslimbrüder und radikalere Islamisten angesprochen, winkt sie allerdings ab und erklärt: “Ich zähle auf den gesunden Menschenverstand der ägyptischen Bevölkerung, die zwar religiös aber nicht extrem ist.”

Seit Wochen arbeiten Kulturschaffende mit viel Engagement am Aufbau eines neuen Kulturlebens. “Die Begeisterung ist nach wie vor ungebrochen, aber die Realität ist deprimierend”, sagt Hebba Sherif. “Im Kulturministerium sitzen noch heute rund 10’000 Beamte, die nie etwas getan haben. Nichts funktioniert.”

Diese Strukturen müssten neu gebildet werden, und dies brauche viel Zeit. “Eine Änderung ist nicht von heute auf morgen zu haben, denn das Land wurde von der herrschenden Clique jahrelang ausgeplündert”. Die Kulturschaffenden wollen Kunst, Literatur, Musik und Theater vermehrt in Schulen, Universitäten, Moscheen und Kirchen einbringen.

Spannungen zwischen Armee und Bevölkerung

Am vergangenen Freitag demonstrierten wieder eine Million Ägypterinnen und Ägypter auf dem Tahrirplatz in Kairo, diesmal mit der Forderung, der gestürzte Präsident und sein Clan sollten vor ein Gericht gestellt werden.

Trotz der gewaltsamen Räumung des Platzes durch die Armee sieht Sherif keine neue Welle der Repression: “Das Komitee der Jugendbewegung und die Muslimbrüder waren sich einig, dass die Armee nicht provoziert werden sollte. Einige Personen entschieden sich allerdings, auf dem Platz zu übernachten und die Ausgangssperre zwischen zwei und fünf Uhr Morgens zu brechen. Erst dann schritt die Armee ein.”

Strategie der Pro Helvetia

Für die Pro Helvetia ist der Umbruch in Ägypten kein Grund, die kulturellen Aktivitäten am Nil nun verstärkt zu fördern, wie Direktor Pius Knüsel erklärt: “Wir unterstützen keine Demokratiebewegungen. Das gehört nicht zu unseren Aufgaben. Von der Politik halten wir uns fern.” Kunst und Kultur trage zur individuellen Befreiung bei und sei insofern im weitesten Sinn auch politisch.

“Für uns ist es interessant, dass wir durch unser Büro in Kairo so nah an den Ereignissen dran sind und Informationen aus erster Hand erhalten. Wenn sich die Lage etwas beruhigt hat, werden wir aus der neuen Situation dann auch neue Ziele für Pro Helvetia in Kairo ableiten, aber dafür ist es jetzt noch zu früh”, sagt Knüsel.

Vorläufig sind nur kleinere Projekte realisierbar, wie Sherif ausführt. Nach einem Unterbruch von rund zwei Monaten ist nun erstmals wieder eine Schweizer Künstlerin als Artist-in-Residence in Kairo. Joelle Flumet leitet zusammen mit dem ägyptischen Kurator Weam Elmasry einen Illustrations-Workshop für junge ägyptische Künstler und Künstlerinnen.

Das Büro in Kairo ist nicht nur für den Kulturaustausch mit Ägypten zuständig, sondern mit der arabischen Welt insgesamt. “Konkret legen wir den Fokus auf Tunesien, Jordanien, Libanon, die palästinensischen Gebiete und die Vereinigten Arabischen Emirate”, sagt Hebba Sherif.

Mit Syrien sei die Zusammenarbeit noch im Anfangsstadium. “Für dieses Jahr hätten wir uns an einem Tanzfestival in Damaskus beteiligen wollen. Dies ist nun wegen der heiklen Lage in Syrien unmöglich geworden.”

Der internationale Kulturaustausch gehört zu den Kernaufgaben der Schweizer Kulturstiftung.

Diesem Ziel dienen die fünf Verbindungsbüros der Pro Helvetia in Warschau, Kairo, Kapstadt, Delhi und Shanghai.

Diese Büros sind mit lokalem Personal besetzt und haben keine Veranstaltungslokale wie etwa die Goethe-Institute.

Das Büro in Kairo wurde 1987 eröffnet und wird seit 2003 von der ägyptischen Germanistin Hebba Sherif geleitet. Unterstützt wird sie dabei von drei Mitarbeiterinnen.

Das Jahresbudget des Verbindungsbüros in Kairo beträgt 600’000 Franken. Davon werden rund 350’000 bis 400’000 Fr. für Aktivitäten ausgegeben.

25. Januar 2011: Beginn der täglichen Demonstrationen mit Millionenbeteiligung bis zum Rücktritt Mubaraks am 11. Februar. Der oberste Militärrat übernimmt die Macht.

4. März: Militärrat entlässt den alten Premierminister und setzt den Favoriten der Protestbewegung ins Amt, Essam Sharaf.


19. März: Referendums-Abstimmung über die Änderungen zur alten Verfassung wird von der Bevölkerung mit 77% der Stimmen angenommen.

Im September 2011 sollen Parlamentswahlen stattfinden. Ein neuer Präsident wird erst im Jahr 2012 gewählt.

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