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Lugano hütet ein gastronomisches Juwel

Bibliothekarin Marta Lenzi mit einem ihrer Lieblingsstücke. swissinfo.ch

Die "Bibliothèque Internationale de Gastronomie" in Lugano beherbergt einen weltweit einzigartigen Schatz an gastronomischen Schriften.

Die Sammlung ist nicht eine Anhäufung von Rezepten, sondern ein Spiegel kulinarischer und gesellschaftlicher Traditionen.

Die Villa Bagnasco thront auf einem Hügel in Sorengo, einem noblen Vorort Luganos. Hier ist die Stiftung B.IN.G zu Hause; das Kürzel steht für Bibliothéque Internationale de Gastronomie.

In der Schweiz ist diese Institution weitgehend unbekannt, doch der internationalen Forschergemeinschaft ist sie durchaus ein Begriff. “Es stimmt: Wir sind im Ausland bekannter als in der Schweiz”, lacht Bibliothekarin Marta Lenzi, die über die einzigartige Sammlung mit rund 4000 Handschriften und Büchern wacht.

Dokumente in vielen Sprachen

Die Sammlung umfasst Handschriften und Drucke vom 14.Jahrhundert bis zum Ende des 19.Jahrhunderts. “Die gastronomische Literatur war die grosse Leidenschaft des Gründers Orazio Bagnasco”, sagt Lenzi.

Der ins Tessin übersiedelte italienische Unternehmer, der 1999 starb, hat weltweit Manuskripte und Handschriften mit gastronomischem Charakter gesucht und erworben, vor allem solche in lateinischer und italienischer Sprache.

Dies erklärt auch, weshalb der grösste Teil des Bestandes in diesen beiden Sprachen vorhanden ist. Kleiner sind die Abteilungen auf Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch, Japanisch und Chinesisch.

Grosser Reichtum für Fachleute aus aller Welt

Die herausragende Rolle der gesammelten lateinischen und italienischen Schriften spiegelt sich im Katalog, der diesem Bestand gewidmet ist. Der dreibändige “Catalogo del fondo italiana e latino delle opere di Gastronomia Sec. XIV-XIX” ist ein Standardwerk der Gastro-Historie und steht als Bibliographie in allen grossen Bibliotheken.

Kein Wunder, dass Fachleute aus der ganzen Welt zur Konsultation der Originale nach Lugano-Sorengo kommen. “Seit Gastronomie in den letzten Jahren noch mehr in Mode gekommen ist, häufen sich die Anfragen bei uns”, erklärt Lenzi. Der Zutritt zur Bibliothek ist allerdings nicht öffentlich. Nur Fachleute, Studenten oder Journalisten haben Zutritt. Ein kleiner, aber schmucker Lesesaal lädt zur Lektüre ein.

Juwele aus alten Zeiten

Dank der Katalogisierungsarbeit kennt Lenzi die Sammlung im Detail. Und zu fast jedem Volumen kann sie eine kleine Geschichte erzählen. Verständlicherweise gerät sie ins Schwärmen, wenn sie Schätze wie den hochmittelalterlichen Kodex “Tacuinum Sanitatis” zeigt: “Er ist ein einzigartiges Zeugnis des Lebens und der Sitten aus dieser Epoche.”

Ein Unikum ist auch das Manuskript “Libreto de tutte le cosse che se magnagno” von Giovanni Michele Savonarola aus dem Jahr 1450 zeigt (Das Buch über alle Dinge, die man isst).

Auch in der deutschsprachigen Abteilung finden sich kleine Juwele, darunter “Das Buch von der rechten Kunst zu distillieren” von Hieronymus Brunschwygh aus dem Jahr 1500.

Spiegel früherer Lebensweise

Gerade diese historischen Abhandlungen zeigen auf, dass die gastronomische Kultur nicht im Sinne heutiger Kochbücher zu verstehen ist. Die Schriften bilden eher einen Spiegel medizinischer, biologischer, landwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erkenntnisse.

Das reicht von den Wirkungsweisen bestimmter Kräuter und Pflanzen über das Tranchieren eines Schweins bis zur Beschreibung eines Hochzeitsessen von Isabelle von Aragonien mit Gian Galeazzo Sforza unter dem Titel “Ordine de le imbandisone” aus dem Ende des 15.Jahrhunderts. “Dieses Buch eröffnet uns die ganze Choreografie der Hochzeit”, sagt Lenzi.

Stolz ist Lenzi auch auf ein Volumen von Maestro Martino, der als Erfinder der modernen Kochkunst gilt – ein Koch aus dem Bleniotal, der Ende des 15. Jahrhunderts am Hof von Mailand Karriere machte. “Er hat die Kochkunst im weitesten Sinn unserem heutigen Geschmack angepasst”, so Lenzi.

Heutigen Bestand bewahren

Die von Bagnasco aufgebaute Sammlung, die 1992 in eine Stiftung überführt wurde, wird heute nicht mehr durch Neuankäufe erweitert. “Wir verwalten das Bestehende so gut es geht”, sagt Lenzi.

Ausgebaut wird allerdings die Zusammenarbeit mit externen Interessenten, darunter Fakultäten für Gastronomie an einigen italienischen Universitäten, vor allem der neu gegründeten Universität für Gastronomische Wissenschaften in Pollenzo bei Cuneo (Piemont), wo sich auch ein Forschungszentrum für Slow Food befindet.

Nicht nur langsames Essen, auch historisches Speisen in Burgen und Schlössern hat Hochkonjunktur. Lenzi ist allerdings der Ansicht, sich keine Illusionen zu machen: “Mittelalterlich zubereitetes Essen könnten wir heute beim besten Willen nicht mehr verzehren.”

Die verschiedensten Gewürze, süss-sauer, alles in einem Topf: Das sei für den heutigen Geschmack unerträglich. Sie rät daher, sich allenfalls von der historischen Umgebung und einstigen Sitten inspirieren zu lassen, beim Essen aber durchaus auf Modernität zu setzen.

swissinfo, Gerhard Lob, Lugano

Zirka 4000 Handschriften und Bücher
Entstehungszeit: 14. bis 19. Jahrhundert
Sprachabteilungen: Italienisch; Latein, Französisch, Deutsch, Englisch, Portugiesisch, Russisch, Japanisch, Chinesisch, Niederländisch
Sitz der B.IN.G.: Lugano-Sorengo

Die Bibliothèque Internationale de Gastronomie (B.IN.G) geht auf die private Initiative des Unternehmers Orazio Bagnasco zurück. Seit 1992 untersteht die Bibliothek einer gleichnamigen Stiftung.

Der Begriff “Gastronomie” ist für die Sammlung in einem weiten Sinn zu verstehen. Die Bibliothek umfasst Schriften aus den Bereichen Ernährungskunde, Landwirtschaft, Biologie und Pflanzenkunde. Die gesundheitliche Wirkung der Nahrung – analog zur heutigen Bio-Lebensmittel-Diskussion – ist historisch häufig Gegenstand der Untersuchungen gewesen.

Die Sammlung B.IN.G gilt als weltweit einzigartig, besonders wegen ihres umgangreichen Bestandes an lateinischen und italienischsprachigen Werken, darunter äusserst wertvolle Handschriften. Dies sind in einem dreibändigen Katalog systematisch erfasst.

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