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Magische Töne einer Walliser Orgel

Tastatur der Orgel von Valère in Sitten. swissinfo.ch

Die älteste noch spielbare Orgel der Welt steht in der Domkirche von Valère. Das einzigartige Instrument wurde um 1430 gebaut und ist seit 40 Jahren der Mittelpunkt des Festivals für gotische Musik in der Kantonshauptstadt Sitten.

Ein Klang hallt durch das Hauptschiff der ehrwürdigen Kirche.

Der Besucher bleibt gebannt stehen und schaut dann zum Gewölbe hinauf, um schliesslich erstaunt den Ursprung der magischen Töne zu entdecken.

Nicht jeden Tag hat man das Privileg, ein Konzert mit einem Instrument zu hören, das mehr als 550 Jahre alt ist. In der Domburg von Valère ist dies noch möglich; dort steht die älteste noch spielbare Orgel der Welt.

Nachdem der Chronist eine enge und steile Treppe hinaufgeklettert ist, entdeckt er die Orgel. Sie hat wenig mit ihren kolossalen Verwandten in modernen Kirchen gemeinsam.

Weder gibt es mehrere Tastaturen, noch zahlreiche Pedale und Knöpfe. Mit ihrem einfachen und kleinen Manual erinnert sie eher an ein Spielzeugklavier.

Auch in anderen europäischen Ländern, so zum Beispiel in Spanien, gibt es noch Orgeln aus dem 15. Jahrhundert. Doch ihre Mechanik wurde unbrauchbar und musste durch eine moderne ersetzt werden.

Ein verliebter Organist

Edmond Voeffray, der Organist des Doms von Sitten, erzählt swissinfo.ch mit der Leidenschaft eines Verliebten von “seiner” Orgel: “Die Orgel von Valère ist einzigartig, weil ihre wichtigsten Teile und ihre Mechanik tatsächlich aus dem Mittelalter stammen. Sie hat noch mehrere ganz erhaltene originale Röhren – und das allein ist einzigartig in der Welt.”

Voeffray, in Lausanne und Genf ausgebildet, fährt weiter mit der Geschichte des Instruments, das er offensichtlich liebt: “Um 1700 wurde die Orgel adaptiert, um auf ihr auch Barockmusik spielen zu können. Deshalb kann man nicht behaupten, dass sie noch gleich tönt wie zu Beginn. Aber wir können uns ziemlich gut vorstellen, wie mittelalterliche Musik geklungen hat, und allein dies ist ausserordentlich.”

Man kann sich kaum vorstellen, dass diese Röhren und Tasten fast 600 Jahre Geschichte erlebt haben.

Ein Privatkonzert

Das Gespräch findet statt im Beisein von Patrick Elsig vom Walliser Museum für Geschichte und von Marie-France Hendrikx, zuständig für Public Relations der Domburg. Sie ermöglichten swissinfo.ch nicht nur, exklusive Aufnahmen der Orgel zu machen, sondern sogar einem Privatkonzert zuzuhören.

Edmond Voeffray liess die ganze Geschichte der Orgel Revue passieren. Es war eine wahre musikalische Reise vom Mittelalter bis fast in unsere Gegenwart.

Den Zuhörer erwartet eine Überraschung: Entgegen der Erwartung kann gotische Musik sehr fröhlich sein und erinnert ein wenig an Volkstänze.

Voeffray beginnt mit der Interpretation von “Musica para Organum Antiquum” aus dem Robertsbridge Codex, der zwischen 1330 und 1448 zusammengestellt wurde. Dieser Codex befindet sich im Britischen Museum und enthält laut Voeffray wahrscheinlich die ältesten Partituren für Orgel.

Mehr Überraschungen

Anschliessend spielt der Organist spanische Barockmusik und beendigt sein Konzert mit schottischen Tänzen aus dem 19. Jahrhundert. Trotz seines kleinen Manuals bereitet das historische Instrument dem Zuhörer eine Überraschung nach der anderen.

Doch wie weiss man, dass das Instrument um 1430 erbaut wurde? “Wegen der Wandmalereien in der Kirche”, erläutert Historiker Elsig. “Wir wissen, dass diese 1435 in Auftrag gegeben wurden. Derselbe Künstler hat auch die Orgel verziert. Das ist gut dokumentiert und deshalb konnten wir auch das Baujahr der Orgel bestimmen. Der schiffförmige Resonanzkörper wurde 1630 hinzugefügt.”

Elsig betont, dass eine Orgel zu jener Zeit ein fast unvorstellbarer Luxus war. Die Orgel soll dank Guillaume de Rarogne, der später Bischof von Sitten wurde, nach Valère gebracht worden sein.

“Die finanzielle Investition für ein solches Instrument war beträchtlich”, fügt Voeffray hinzu, “denn wir dürfen nicht vergessen, dass bis zur industriellen Revolution die Orgel die komplizierteste Maschine war, die der Mensch erfunden hatte”.

Ein Musikinstrument von 250 v. Chr.

Doch wann und wie wurde die Orgel erfunden? Der Organist in Valère erzählt, dass die ersten Informationen aus dem Jahre 250 v. Chr. stammen: “Sie berichten von einem Instrument, das ein Ingenieur aus dem ägyptischen Alexandrien namens Ktesibios erfunden hat. Wahrscheinlich gibt es noch ältere Verwandte, da es auf Amphoren Darstellungen mit ähnlichen Instrumenten gibt. Eines, ‘Hydraules’ genannt, wird in einem tausendjährigen Text von Vitrubius beschrieben.”

Dieses Instrument verband mehrere Oboen mit einer Tastatur, die mittels eines komplizierten hydraulischen Systems funktionierte. Eine moderne Nachbildung dieser “Hydraules” ist im Orgelmuseum von Roche zu besichtigen. Laut Chronisten der Antike war es unmöglich, die “Hydraules” zu beschreiben. Man musste sie selbst sehen und hören.

Seit den Restaurationsarbeiten im Jahre 1954 entzückt die Orgel von Valère die Zuhörer jedes Jahr dank des Festivals für antike Orgel. Es wurde erstmals 1969 organisiert.

Seither kommen jedes Jahr die besten Organisten der ganzen Welt nach Sitten. Die in Valère aufgenommenen Tonträger werden von Kennern und Liebhabern antiker Musik sehr geschätzt.

Rodrigo Carrizo Couto, Sion, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

Die gotische Orgel ist das älteste noch spielbare Instrument seiner Art.

Sie soll zwischen 1430-1440 in Valère installiert worden sein.

Das Instrument umfasst kaum drei Oktaven und seine Tasten sind viel kleiner als die heutigen.

Der Grossteil der Röhren und Mechanik musste nie ersetzt werden und stammt aus dem Mittelalter.

Um 1700 wurde die Orgel für Barockmusik adaptiert, 1954 musste sie restauriert werden.

Seit 1969 ist sie der Star am jährlichen Festival für Antike Orgel in Valère.

Zahlreiche Tonträger wurden mit dieser einzigartigen Orgel aufgenommen.

Dieser Bischofssitz nimmt in der Geschichte der Schweiz einen besonderen Platz ein: Kein anderer Ort besitzt so viele Architekturteile und Verteidigungs-Anlagen aus jener Zeit.

Laut Patrick Elsig enthält die Burg einen weiteren Schatz: die grösste europäische Sammlung mittelalterlicher Möbelstücke aus dem 13. und 14. Jahrhundert.

Bis zum 18. Jahrhundert beherbergte die Burg eine wohlhabende Mönchsgemeinschaft und eine kleine Stadt.

Die Domburg Valère und ihre Zwillingsschwester Tourbillon (seit einem Brand 1788 eine Ruine) sind von weither zu sehen.

Sie beherrschen das Rhonetal und krönen die Stadt Sitten.

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