Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Beatles auf dem grössten Schweizer Glockenspiel

Das Glockenspiel der Abtei Saint-Maurice ist das grösste in der Schweiz. Mit seinen 49 unterschiedlich grossen Glocken können vier Oktaven gespielt werden. Abbaye-stmaurice.ch

In der Abtei Saint-Maurice im Kanton Wallis, in der seit 1500 Jahren gebetet wird, befindet sich ein Glockenspiel (Carillon) mit 49 Glocken. Es ist grösser als der bisherige Rekordhalter, ein automatisches Carillon am Vierwaldstättersee.

Ursprünglich bedeutet Carillon “mit vier Glocken eine Melodie spielen”. In den Kirchen der Schweiz schlugen jeweils vier bis acht Glocken die Zeit. Mit Musik hatten sie jedoch nicht viel zu tun.

Aber wie das grosse Glockenspiel von Saint-Maurice, das vier Oktaven spielen kann, zeigt, dient es seit neustem auch als Instrument, auf dem beliebte Melodien im Stil eines Konzertes gespielt werden können.

“Nebst religiösen Liedern möchte ich künftig auch beliebte Stücke, zum Beispiel aus dem Jazz, von den Beatles oder auch Volkslieder spielen”, sagt François Roten, der Carillonneur der Abtei Saint-Maurice. Er erzählt von seinem Zukunftstraum, während er das Lied “Yesterday” von den Beatles spielt.

Sein Ideal ist nämlich, dass die Bürger von Saint-Maurice es sich am Wochenende auf der Terrasse bequem machen und dabei sagen: “Das Glockenspiel der Abtei spielt schöne Musik, nicht wahr?”

Wo seit 1500 Jahren gebetet wird

Die im Jahr 515 errichtete Abtei Saint-Maurice hat mehrere Unglücke wie Brände und auch einen Felssturz überstanden. Die Abtei wird seit etwa 1500 Jahren zum Beten benutzt.

In dem “in diesem Sinne ältesten Kloster in Europa” leben gegenwärtig 45 Mönche und im Innenhof befindet sich die Stelle, an der im 4./5. Jahrhundert Taufzeremonien abgehalten wurden.

Darf in einer so erhabenen Abtei überhaupt “Yesterday” gespielt werden? “Früher spielte in Holland um 1500 das Glockenspiel eine Melodie, bevor die Glocken im Uhrturm die Zeit schlugen, um die Bürger darauf aufmerksam zu machen. Dies stand in keinem Zusammenhang mit der Kirche”, erklärt Andreas Friedrich, Präsident der Gilde der Carillonneure und Campanologen der Schweiz (GCCS).

“Doch noch heute erfreuen sich die dortigen Bürger beim Einkaufen an dem Glockenspiel, das man unter anderem von der Stadthalle aus hören kann.”

Auch das Glockenspiel von Saint-Maurice ertönt vom Turm der Abtei bis in alle Ecken und Winkel der Stadt. Deshalb entspricht es nicht einem gebührenpflichtigen, sondern “einem demokratischen Konzert, das jeder hören kann”. Gerade deshalb seien populäre Lieder angemessen, sagt Friedrich.

Tiefer Widerhall im Körper

Im steinernen Turm der Abtei Saint-Maurice wurden erstmals zu Beginn des 14. Jahrhunderts Glocken aufgehängt.

Diese wurden später unter anderem durch Feuer zerstört. Die heute vorhandenen acht Glocken wurden 1818 neu angefertigt.

Der 1989 in die Abtei gekommene François Roten spielt diese acht Glocken auf eine Art, die “Walliser Glockenspiel” (Carillon valaisan) genannt wird. Dabei zieht der Carillonneur bei befestigter Glocke an einem am Klöppel befestigten Seil – eine besondere Schweizer Tradition.

“Um den Eintritt ins 21. Jahrhundert zu markieren, wurde ein grosses Glockenspiel gespendet”, blickt Roten auf jene Zeit zurück.

Zuletzt wurden vier von den acht Glocken der Abtei belassen und neu 45 Glocken aus Holland bestellt. Holland hat nämlich einen guten Ruf in der Herstellung von Glockenspielen. “Es umfasst vier Oktaven und besonders die klaren, hohen Töne der kleinen Glocken klingen grossartig”, sagt Roten.

“Es erfüllt mich mit Stolz, das beste Glockenspiel der Schweiz spielen zu dürfen. Weil es handbetrieben ist, entstehen die Nuancen durch die Art der Kraft, mit der die Tastatur berührt wird.”

Roten, der auch Pfeifenorgel spielt, sagt: “Ich beginne mich mehr für das Glockenspiel als für die Pfeifenorgel zu begeistern. Sein Klang widerhallt tief im Körper, und das ist schön.”

Dazu spielt er “Yesterday”, unter anderem indem er die Tasten mit der Faust drückt oder für die grossen, schweren Glocken die Fuss-Tastatur tritt.

“Konkurrenz”: Nur ein “Gadget”?

Die Tellsplatte bei Sisikon, wo dem vom Landvogt Gessler gefangen genommenen Willhelm Tell bei der Überfahrt des Urnersees auf stürmischem Wasser die Flucht durch einen Sprung vom Schiff gelungen sein soll, zieht unaufhörlich Touristen an, die den Ausgangspunkt der Schweiz kennen lernen wollen.

Auf dem Hügel dieser Wiese hat der Verband Schweizerischer Schokoladefabrikanten (Chocosuisse) zum 100. Jahrestag seit der Gründung ein Glockenspiel gespendet.

Dabei handelt es sich um ein Glockenspiel, das mit 37 Glocken per Computersteuerung 20 Melodien spielt und 100% “Swiss Made” ist. Bis dieses 2004 vom Glockenspiel der Abtei Saint-Maurice übertroffen wurde ist, war es das Umfangreichste der Schweiz.

“Obwohl es in den letzten acht Jahren jährlich 10’000 Lieder gespielt hat, ist es noch nicht kaputt”, erklärt Stefan Muri von der Jakob Muri AG, in der die Tradition der Glockenherstellung in zweiter Generation weitergeführt wird. “Es ist robust geschaffen. Das ist der Stolz der schweizerischen Handwerker.”

Andreas Friedrich von der GCCS aber betont: “Muri ist eine Werkstätte, deren Tradition die Herstellung von grossen Glocken für Kirchen ist. Die Tonqualität dieser Glockenspiele ist keinesfalls schlecht. Aber da sie automatisch sind, kann ein Carillonneur überhaupt keine Nuancen hervorbringen. In diesem Sinne handelt es sich um ein Glockenspiel, das sozusagen einem ‘Gadget’ nahe kommt.”

Glockenspiel per SMS

Selbst wenn es ein Gadget sein sollte, kann ein Tourist auf Knopfdruck sofort Rossinis “Willhelm Tell Ouvertüre” hören. Weil sie zudem laut erklingt, ist sie auch auf dem Urnersee deutlich hörbar.

Deshalb hat Jakob Muri es so angelegt, dass die Kapitäne der Touristenschiffe lediglich durch eine vom Handy verschickte SMS das Glockenspiel auslösen können.

Friedrich bemerkt, dass sich das Glockenspiel in Saint-Maurice zwar abgeschirmt in einem strengen Kloster befindet, die schweizerischen Carillonneure jedoch von nun an die Rolle übernehmen, es durch bekannte Melodien den Bürgern als handbetriebenes 4-oktaviges Instrument vertraut zu machen und zu entwickeln.

Er betont: “Das Instrument ist dort. Folglich werden künftig auch Carillonneure heranwachsen. Den schweizerischen Carillonneuren gehört die Zukunft.”

Kuniko Satonobu, St. Maurice und Yumi Sato, Sisikon, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Japanischen: Mika Kunz)

Das Gesamtgewicht der vier Oktaven umfassenden 49 Glocken beträgt 15 Tonnen. Die kleinste Glocke wiegt 9,1 Kilo, die grösste 3,99 Tonnen.

Die Glocken sind grundsätzlich aus Kupferbronze, das heisst zu 78% aus Kupfer und zu 22% aus Zinn gefertigt.

Da jedoch mit steigendem Zinngehalt die hohen Töne klarer und schöner werden, weisen die kleinen Glocken, die diese hohen Töne erzeugen, einen etwas höheren Zinngehalt auf.

Um den Eintritt ins 21. Jahrhundert zu markieren, spendeten die Abschlussschüler eines der Abtei Saint-Maurice angegliederten Gymnasiums die Glocken.

In die Glocken ist jeweils der Name des Stifters eingraviert.

Mit der Beifügung der 45 aus Holland bestellten Glocken zu den bereits bestehenden vier war das Glockenspiel 2004 komplett.

“Sowohl in Bezug auf das Gewicht als auch auf die Grösse steht es derzeit an erster Stelle. Zudem spielt es vier Oktaven, bringt, weil es von Hand bedient wird, Nuancen hervor und birgt als Instrument ein hohes musikalisches Potenzial”, schwärmt der Präsident der Gilde der Carillonneure und Campanologen, Andreas Friedrich, ganz offen.

Länge und Breite betragen 5 Meter, die Höhe misst 10,5 Meter. Das Gesamtgewicht der 37 aus Bronze gefertigten Glocken beträgt 5,768 Tonnen, wobei die kleinste Glocke 8 und die grösste 880 Kilo wiegt.

Die 20 mit der Schweiz in Verbindung stehenden Lieder werden per Computersteuerung gespielt.

Das Glockenspiel wurde 2001 zum 100. Jahrestag des Verbands Schweizerischer Schokoladefabrikanten (Chocosuisse) als Gabe ans schweizerische Volk gebaut.

Die Tellsplatte befindet sich auf dem gegenüberliegenden Ufer des Rütli, der Gründungswiese der Schweiz, und an ihr führt der zum 700. Jahrestag des Landes erstellte “Weg der Schweiz” vorbei.

Franz Schmid, der Präsident der Chocosuisse, sagt: “Damals ist es zufälligerweise das grösste Glockenspiel der Schweiz geworden. Dass zwei Jahre später ein anderes diesen Platz einnahm, ist kein Problem. Das Glockenspiel der Tellsplatte ist ein rein schweizerisches Produkt, symbolisiert das Herz der Schweiz und zeigt auch ihre Stärke. In diesem Sinne steht es also an erster Stelle.”

Die World Carillon Federation (WCF) anerkennt die folgenden vier von Hand bedienten Carillons der Schweiz:
– das 49 Glocken umfassende Carillon der Abtei Saint-Maurice
– das 36 Glocken umfassende Carillon der Kirche Sainte-Croix im Kanton Waadt
– das ebenfalls 36 Glocken umfassende Carillon in Zofingen
– das 24 Glocken umfassende Carillon in Lens

Zu den computergesteuerten Carillons der Schweiz gehören:
– das Carillon in Sisikon mit 37 Glocken
– das Carillon der Bijouterie Kurz in Zürich mit 31 Glocken
– das Carillon des Kirchgemeindehauses Hasel in Spreitenbach-Killwangen mit 24 Glocken
– das Carillon des Uhrenmuseums in La Chaux-de-Fonds mit ebenfalls 24 Glocken

(Quelle: Homepage der GCCS)

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft