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Vom Stahlbau zum Schoggi-Job

KkG zeigt "Fabrikk": Der Abend beginnt fast harmonisch und endet in einer industriellen Katastrophe. Erwin Dettling

Seit einem Vierteljahrhundert bringt die Schweizer Schauspiel- und Gaukler-Truppe "Karl´s kühne Gassenschau" aktuelle und berührende Themen mit grossem technischen Aufwand auf die Bühne. Dieses Jahr trumpft KkG in Winterthur mit "Fabrikk" auf.

“Fabrikk” bedeutet Industrie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und Globalisierung. Das merkt der Zuschauer bereits, wenn er in der Vorstadt von Winterthur das Gelände der schaustellerischen Grossproduktion von KkG betritt.

Am Eingang des Gewerbe- und Industrie-Geländes rostet das Bühnenbild der vorherigen Produktion (Silo 8, 2006-2009) vor sich hin.

Die Geschichte von „Fabrikk“ ist rasch erzählt. Eine Schweizer Schokoladefabrik wird von einem chinesischen Industriellen mit einem Mega-Auftrag eingedeckt. 50 Millionen Schachteln Ginseng-Schoggi sollen in zwei Wochen von den Fliessbändern rollen.

Der Auftrag ist ohne Sonderschichten und ohne Qualitätseinbussen beim Produkt nicht zu schaffen. Die Belegschaft rebelliert, der Industriekapitän fackelt nicht. Die Produktion wird mit allen Anlagen und mit Getöse nach China verlegt und abtransportiert.  

Theater und Privatinitiative

Auf der Bühne steht eine authentische aber ausrangierte Schokoladefabrik, gespendet von einem Schweizer Premium-Schokofabrikanten.

Nicht nur hier verschränken sich bei KkG Drama und Sponsoren, ohne die eine aufwendige Megaproduktion wie “Fabrikk” kaum realisierbar wäre.

Gespielt wird auf dem wilden Grund eines ehemaligen Sulzer-Areals, das jetzt dem grössten Baukonzern der Schweiz gehört. Dieser lieferte den Beton für den Bau des Theaterspektakels.

Wirklichkeit und Drama verschränken sich bei “Fabrikk”, wie Ernesto Graf, Mitbegründer und Produzent von KkG gegenüber swissinfo.ch erzählt: “Wo wir heute unser Stück aufführen, wurde vor nicht allzu langer Zeit Stahlbau betrieben. Diese Produktion wurde, so haben wir erfahren, nach China verlegt.” 

Ernst und trotzdem unterhaltend

KkG thematisiert in “Fabrikk” ein ernstes Thema mit grosser Leichtigkeit, mit Witz und Spielfreude.

Wie im echten Leben wird auf der Bühne hart gearbeitet, gemobbt, gelacht, gesungen, geliebt, und – wie könnte es im Schoko-Geschäft anders sein – das Publikum mit süssen Überraschungen, Slapstick und mit ergreifenden Liedern und harter Rockmusik verwöhnt.

In “Fabrikk” drohen die Technik, hydraulische Arme, der Baukrahn, Hebebühen, die Walzen und die Förderbänder der Schokofabrik den Plott des Stückes und die Schauspier zu verdrängen und zu erdrücken. 

Grenzen der Monumentalität

Gewollt? Ernesto Graf erklärt den Zwiespalt, dem seine Truppe bei der Konstruktion des Stückes “Fabrikk” unterworfen war: “Nach dem monumentalen Aufwand für die Produktionen Aqua (2003-2005) und Silo 8 (2006-2009) mussten wir den technischen Aufwand für das neue Stück “Fabrikk” überdenken, womöglich redimensionieren. Wir entschieden uns für hervorragende Schauspieler und Emotionalität.”

“Fabrikk” leidet unter einer Portion Selbstzitat. Die scheinbar reduzierte Technik, die bei früheren Stücken die Zuschauer verblüffte, ist auch bei “Fabrikk” noch immer imposant. Und das Stück nimmt, angelehnt an die Poetik des berühmten Theater-Autors Friedrich Dürrenmatt, seinen fatalen Gang.

Das beste Theater entstehe, so Dürrenmatt, wenn eine Geschichte ihre schlimmstmögliche  Wendung nehme. Und “Fabrikk” nimmt die schlimmstmögliche Wendung. Die Schokofabrik wird mangels ausreichender Rohstoffe und stromlinienförmiger Belegschaft von chinesischen Kulis zusammengeklappt und nach China verfrachtet. Ein Monument der Schweizer Industrie-Geschichte geht bei der Aufführung real den Bach ab.

Theaterstoff entspringt der Wirklichkeit

Will KkG belehren, in “Fabrikk” mit dem Zeigefinger anprangern, moralisieren? Produzent Ernesto Graf winkt ab: “Wir nehmen in unseren Stücken auf, was sich vor unseren Augen abspielt, was uns berührt”.  

“Fabrikk” lässt genug Raum offen für eigene Interpretationen der dramatischen Ereignisse auf der Bühne. Spätestens nach dem fulminanten Ende des Stückes wird der Zuschauer auf dem Heimweg mit der real existierenden Industriegeschichte von Winterthur konfrontiert. Und diese ist vielversprechend.

Schokolade und Innovation

Die Sulzer-Stahlwerke sind abmontiert, die ökologischen Altlasten liegen noch im Untergrund. Neue Leuchtschriften bekannter und neuer Unternehmen erhellen den Abendhimmel: Sulzer-Innotec, Burkhardt-Compression, Zimmer, Stadler, Optimo, Eulachpark, Wäntisilä. Das Alte ist Neuem gewichen.

Am Ende des Spektakels “Fabrikk” ist die Schokoladefabrik auf dem Weg nach China, und die zurückgebliebene Belegschaft steht im Wasser. Aber sie rührt schon neue Schokolade an. Der Weg ist frei, für Innovation, Erfindung und Neuanfang.

Karl’s kühne Gassenschau hat seit 1984 zwanzig verschiedene Produktionen in über 2000 Vorstellungen vor über einer Million Zuschauer auf die Bühne gebracht.

Die Theater- und Artistengruppe hat enorme Wandlungen durchgemacht. KkG begann mit einfachem Strassenvariété und entwickelte sich später zum abenteuerlichen Freilufttheater.

Die Gründer lernten sich in Zürich an der Mimenschule Ilg  kennen. Im Lauf der Jahre ist KkG mit immer aufwendigeren Produktionen und mit dem Einsatz von Technik und Effekten in Erscheinungen getreten

Die Produktion AKUA (2006) erreichte mehr als 300 000 Zuschauer. SILO 8, der nächste Openair-Streich von KkG, verblüffte mit einer Mischung aus Schauspiel, Live Musik, Choreografien und halsbrecherischen Stunts unter freiem Himmel.

Mehr als 500’000 Zuschauer haben während fünf Saisons das Altersheim der Zukunft erlebt. Mit “Fabrikk” wagt KkG ein neues theatralisches Abenteuer, das die Globalisierung und die Macht neuer Player auf dem Weltmarkt thematisiert.

Treibende Kraft bei allen Produktionen von KkG ist die Lust, Grenzen zu sprengen und Unterhaltung mit Innovation zu verbinden.

Diese Theaterform soll für ein breites Publikum zugänglich sein und immer wieder in neue Dimensionen der Fantasie vorstossen.

Charme, Komik und Risiko spielen bei jeder Kreation von Karl’s kühne Gassenschau eine zentrale Rolle.

Es geht um Spass und um Nervenkitzel, die Zuschauer sollen aber auch zum Nachdenken hingeführt werden. KkG behandelt zeitkritische Themen mit komödiantischen Mitteln.

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