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Widerstand zwischen Strassenschlacht und Bühne

Das tunesische Stück "Amnesia" von 2010 wirkt wie eine Vorhersage auf den "Arabischen Frühling". ZTS 2011/Christian Altorfer

Die Wirkungskraft von Kunst für die gesellschaftliche Entwicklung ist umstritten – auch am Zürcher Theaterspektakel. Die DEZA unterstützt zahlreiche Produktionen, die sich mit Umbruch und Wandel in den Ländern des Südens und Ostens auseinandersetzen.

Für einmal ist das Publikum von Scheinwerferlicht angestrahlt und die Bühne ins Dunkel getaucht, während sich die elf schwarz gekleideten Schauspielerinnen und Schauspieler der tunesischen Truppe Fadhel Jaïbi&Familia am vorderen Bühnenrand stumm auf weisse Plastikstühle setzen und langsam einnicken.

Nur ein leises Ticken ist zu hören. Dann setzt plötzlich ohrenbetäubender Lärm ein, Schüsse, Detonationen, Geschützfeuer. Die Figuren rennen panisch über die Bühne. Mehrere Zuschauer halten sich erschreckt die Ohren zu. Die Schmerzgrenze ist bereits überschritten, als der Kriegslärm in peitschenden Technosound übergeht.

Die Frauen und Männer auf der Bühne tanzen wild, singen dann ausgelassen “Happy Birthday!” und halten plötzlich inne. Eine Stimme fragt über Lautsprecher auf Arabisch: “Wie spät ist es?” Fürs Zürcher Publikum wird der Text auf Deutsch an die schwarze Bühnenwand projiziert.

Die Absetzung eines Diktators

Das Stück “Amnesia” (Gedächtnisverlust) beginnt intensiv und fesselt mit seiner präzis choreographierten Inszenierung alle Sinne. Es handelt von der Absetzung eines Diktators, der zuerst unter Hausarrest und dann in eine psychiatrische Klinik verbannt wird. Dort wird er von Ärzten, Anwälten, Polizisten und Journalisten ins Kreuzverhör genommen und muss sich seiner Vergangenheit stellen.

“Amnesia”, 2010 geschrieben und uraufgeführt, wirkt heute wie eine Vorhersage der Ereignisse des “Arabischen Frühlings” und des Sturzes von Präsident Ben Ali im Januar 2011 in Tunesien.

Doch Fadhel Jaïbi, zusammen mit seiner Frau Jalila Baccar Autor des Stücks und Leiter der Theatertruppe, widerspricht: “Es war damals völlig undenkbar, dass Ben Ali jemals gehen würde. Als mir die Idee zu diesem Stück einfiel, dachte ich zuerst, ich müsse mich psychiatrisch behandeln lassen.”

Der Einfluss der Kunst auf den sozialen Wandel

Am Podiumsgespräch über “Kunst und sozialer Wandel” plädiert Fadhel Jaïbi für eine “synthetische Identität”: “Die Werte, die wir heute fordern, Pluralismus und Demokratie, sind europäische Werte. Ich nehme mir von jeder Kultur, was ich brauche.”

Er halte die künstlerische Mission für fundamental im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess und habe in Tunesien immer eine kritische Distanz zum Regime gewahrt: “Das kam mich teuer zu stehen, aber ich bereue es nicht.”

Unterschiedliche Positionen über die Wirksamkeit von künstlerischer Arbeit vertreten der Autor Chalid al-Chamissi (“Im Taxi”) und die Theaterfrau Laila Soliman aus Ägypten, die am Theaterspektakel “Lessons in Revolting” präsentiert.

Während der 49-jährige Bestsellerautor behauptet, dass die Kulturschaffenden in Ägypten seit rund fünf Jahren einen Wandel in den Köpfen der Menschen bewirkt und so die Revolution vorbereitet hätten, gibt sich die 30-jährige Dramatikerin und Regisseurin skeptisch: “Ich würde gerne glauben, dass wir die Revolution wesentlich beeinflusst haben, aber das wäre naiv. Ich erreiche mit meiner Arbeit nur eine kleine Minderheit. Für die Revolution spielten unabhängige Medien und engagierte Menschenrechtsaktivisten eine viel grössere Rolle.”

DEZA-Engagement für die Kultur

Die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) unterstützt mehrere Produktionen und Podiumsgespräche am Theaterspektakel. “Kunst ist ein vitales Bedürfnis und eine Notwendigkeit für jede Gesellschaft. Sie trägt dazu bei, die Identität zu gestalten und kann den interkulturellen Dialog erleichtern”, sagt Alice Thomann vom DEZA gegenüber swissinfo.ch.

Ein unabhängiger, vielfältiger Kultursektor sei selbst ein Indikator für Demokratie. Thomann ist überzeugt davon, dass die Kulturschaffenden mit ihrer künstlerischen Ausdrucksweise eine wichtige Rolle in gesellschaftlichen Transformationsprozessen spielten.

“Indem sie mit Symbolen arbeiten, appellieren sie sowohl an den Intellekt als auch an die Sinne und Emotionen. So können sie Dinge zum Ausdruck bringen, die man in einer anderen Form gar nicht sagen könnte.” Gerade in Ländern, in denen die Meinungsfreiheit eingeschränkt sei, bilde die Kunst oft die einzige Form, sich auszudrücken.

Das internationale Theaterfestival am Zürichsee findet vom 18. August bis zum 4. September 2011 statt.

Es präsentiert gegen 30 herausragende Gruppen und Einzelkünstler aus der internationalen Theater-, Tanz- und Performance-Szene.

Zahlreiche Produktionen bewegen sich im Schnittfeld verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen.

Unter dem Eindruck der Revolutionen im arabischen Raum werden dieses Jahr zahlreiche Produktionen aus Nordafrika und dem Nahen Osten präsentiert.

Ausserdem sind Stücke aus Lateinamerika und Europa zu sehen, die sich mit den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen künstlerisch auseinandersetzen.

Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) unterstützt das Zürcher Theaterspektakel seit 2008 für Produktionen aus Ländern des Südens und Ostens.

Der jährliche Beitrag von bisher rund 60’000 Franken wurde dieses Jahr im Rahmen des Jubiläums “50 Jahre DEZA” auf 110’000 Franken aufgestockt, weil das Programm des Festivals einen Schwerpunkt mit Produktionen aus Afrika und zur Rolle der Kunst im sozialen Wandel enthält.

Die DEZA engagiert sich in den Transitionsländern im Westbalkan und in Zentralasien, im südlichen Afrika, aber auch in Burkina Faso, Kuba, Bolivien, Mozambique und Palästina.

Als Prinzip gilt, dass jedes DEZA-Kooperationsbüro mindestens 1% seiner Mittel für die lokale Kultur verwendet.

Nach dem arabischen Frühling ist die DEZA zusammen mit anderen Partnern daran, den Unterstützungsbeitrag der Schweiz an die Transition in Tunesien, Ägypten und Marokko zu konkretisieren.

Eine Priorität dabei ist der Übergang zur Demokratie. In diesem Kontext steht die Zusammenarbeit mit Kulturorganisationen.

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