Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Zwischen Abschottung und Weltoffenheit

Jedes rätoromanische Idiom ist in seinem Dorf oder Tal verwurzelt. swissinfo.ch

Wie könnte die Identität eines Volkes aussehen, dessen Sprache nur von einer Minderheit gesprochen wird und erst noch in fünf Lokalsprachen unterteilt ist?

Hinter dem Lokalpatriotismus, der diese Situation zu charakterisieren scheint, zeigt sich in der Mehrsprachigkeit paradoxerweise auch eine gewisse Weltoffenheit.

Das Rätoromanische – Romantsch – wurde und wird durch den wirtschaftlichen und kulturellen Druck aus der Deutschschweiz ausgehöhlt. Ausserdem ist es in der lateinischen, vor allem der französischsprachigen Schweiz kaum anerkannt. Dort gelten die Rätoromanen oft als Überläufer in die Deutschschweiz.

Dass es sich um eine Minderheitenkultur handelt, wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass Romantsch in fünf Sprachen unterteilt ist, die mit winzigen Gebieten verbunden sind, welche lange Zeit fast undurchlässige Grenzen aufwiesen.

Reichtum oder Nachteil?

Für Französischsprachige, die an die Idee eines politisch-kulturellen Zentralismus gewöhnt sind, dient eine Sprache vor allem der Kommunikation. Zwar sind der kulturelle Reichtum und die Vielfalt der rätoromanischen Welt nicht zu leugnen, doch geht man fast zwangsläufig davon aus, dass ein solcher sprachlicher Regionalismus Kommunikation und Entwicklung auch bremsen kann.

Das räumt auch Chasper Pult, Experte für Rätoromanisch, ein. „Es ist ein Reichtum, weil es eine direkte Identifizierung mit einer Region ermöglicht. Aber auch ein Nachteil, weil es keine oder nur eine theoretische rätoromanische Einheit gibt. Aber in den letzten Jahren wird immer klarer, dass eine Minderheit neben der Globalisierung eine gemeinsame Identität braucht.”

„In den Alpen ist das so: Wir gehören immer in das Dorf oder das Tal, in dem wir aufgewachsen sind”, stellt Andrea Rassel von der ‘Lia Rumantscha’ fest. Da Romantsch Landessprache ist, gehören wir auch einer ethnischen Gruppe der Schweiz an. Wir hoffen, dass ‘Rumantsch Grischun’ hilft, die rätoromanische Identität als Ganzes zu entwickeln.”

In Bezug auf diese vereinheitlichte Sprache befinden sich die Rätoromanen zur Zeit jedoch in einer Übergangsphase: Eine Generation beherrscht sie noch nicht, eine andere ist daran, sie zu lernen … „Aber diese Übergangsphase darf nicht lange dauern, dafür haben wir keine Zeit”, argumentiert Chasper Pult.

Von der Abschottung zur Weltoffenheit

Wie wir gehört haben, sind Rätoromaninnen und Rätoromanen also gefühlsmässig alle an ihre heimatliche Ecke gebunden. Gibt es trotzdem eine allgemeinere „rätoromanische Identität”?

„Wenn ich in Zürich oder in den USA einem Romantsch Sprechenden aus einem anderen Tal begegne, sagen wir uns, dass wir quasi Brüder sind. Begegnen wir uns in Chur, passiert nichts… Die rätoromanische Identität ist eher eine Utopie”, stellt Ursin Lutz, Chefredaktor der Monatssendung ‚Punts’ fest.

Trotzdem hängen einige an dieser berühmten Identität. Und vielleicht zeigt sie sich am besten in einem doppelten gemeinsamen Punkt.

Einerseits ist da wie gesagt die starke Verbundenheit mit den Wurzeln, im kulturellen Bereich des Geburtsorts. Andererseits gibt es diese Öffnung, die eine Minderheit braucht. Eine Geisteshaltung, die sich bei den Rätoromanen in der Begabung für die Mehrsprachigkeit zeigt.

„Wir sprechen alle auch Deutsch und manchmal Italienisch. Wir sind also zwei- oder dreisprachig, und es ist deshalb schwierig zu sagen, wir seien typisch ‚rätoromanisch’, auch wenn wir natürlich unsere Traditionen haben”, hält Andrea Rassel fest.

Und Bernard Cathomas, Direktor von RTR, geht noch weiter: „Romantsch ist eine Sprache der Identität, der Wurzeln, aber auch der Kommunikation. Mit Romantsch als Basis hat man einen Schlüssel zu allen anderen lateinischen Sprachen. Ich kann Spanisch, Portugiesisch, Italienisch und Französisch lesen und verstehen. Ausserdem lernt man die lateinische und die deutsche Grundlage sehr früh.”

Das Symbol der ‘Lia Rumantscha’ ist nicht zufällig ein Schlüssel!

Seinen Platz finden

Das Leben als Minderheit ist also nicht unbedeutend, und es hat einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Welt jedes einzelnen Menschen. „Rätoromane zu sein bedeutet, ein System zu haben, dank dem man in der globalisierten Welt seinen Platz einnehmen kann, und das ist ein Vorteil. Die Tatsache, dass man neben Französisch oder Englisch eine Minderheitensprache spricht, gibt einem die Sicherheit, im weltweiten Chaos seinen Platz besser finden zu können”, stellt Pult fest.

Und fügt bei: „Früher sahen sich die Rätoromanen als Gegensatz, als Minderheit gegenüber einer Mehrheit. Die Deutschschweiz hatte die Macht, war dominant, wie sollte man sich dieser Mehrheit widersetzen? Heute haben wir – vor allem die junge Generation – verstanden, dass man nicht verfeindet sein muss. Man kann einer Minderheit angehören und in einer globalen, internationalen Perspektive leben.”

Diese Sicht eines Vertreters der Kultur wird vom ‚Mann auf der Strasse’ nicht unbedingt geteilt (vgl. „Auf der Suche nach dem Romantsch”), wird aber vom rätoromanischen Soziologen Clau Solèr bestätigt.

„Im 19. Jahrhundert wollten wir das Deutsche kopieren, es sollte alles so sein wie in der Deutschschweiz. Diese Tendenz ist heute zwar zum Teil noch vorhanden, doch die Bevölkerung identifiziert sich stärker mit dem Wohnort, mit der gesprochenen Sprache, mit allem, was lokal und identifizierbar ist”, sagt er.

swissinfo, Bernard Léchot
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Romantsch besteht eigentlich als fünf Sprachen, die alle mit einer Bündner Region verbunden sind: Sursilvan (Vorderrhein), Sutsilvan (Hinterrhein), Surmiran (Alvratal und Gelgiatal), Puter (Oberengadin), Vallader (Unterengadin und Münstertal).
Seit 1982 gibt es eine überregionale Sprache, das Rumantsch Grischun (RG).

Das Wappen des Kantons Graubünden ist in drei Teile unterteilt, welche die drei historischen Bünde darstellen:
Geteilt, oben gespalten:
– Schwarz und Silber für den Grauen Bund
– blau-goldiges Kreuz für den Zehngerichtebund
– Silber mit aufrechtem schwarzem Steinbock für den Gotteshausbund

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