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“Das Erzählen wird wieder entdeckt”

Trotz TV und Computer: Märchen faszinieren gross und klein weiterhin. swissinfo.ch

In Baden findet zurzeit der schweizweit erste internationale Märchen-Kongress statt. 350 Personen diskutieren über Erzählforschung und lauschen Märchen.

Märchen sind bei weitem nicht bloss altmodisch und von vorgestern. Schweizweit gibt es 15 Märchenkreise und Erzähltreffs – übrigens Lese- und Diskussionsforen von Erwachsenen, nicht etwa Kindern.

Und als letzten Herbst das “Drachenschiff” (ein umgebautes Kursschiff, das mit spitzen Zähnen und rauchendem Mund für die sagenreiche Thunersee-Region wirbt) zur Märchennacht lud, kamen mehrere hundert Kinder und Erwachsene und lauschten den Erzählungen.

Nicht bloss Esoteriker

Neben den traditionellen Volksmärchen sind es auch die Kunstmärchen, die (altbekannten oder modernen) märchenhaften, von einer Autorin oder einem Autoren erfundenen Geschichten, welche faszinieren – doch nicht immer muss es “Herr der Ringe” oder “Harry Potter” sein.

“Es gibt einen veritablen “Märchen-Boom”, so Barbara Gobrecht, Erzählforscherin, Dozentin an der Hochschule St. Gallen und Mitorganisatorin des Märchen-Kongresses, gegenüber swissinfo.

Viele Leute wollten wieder Märchen hören: “Sie sind ergriffen, überwältig und vielleicht auch amüsiert.” Kaum jemand könne sich dem Charme eines professionell erzählten Märchens entziehen – dies gelte für Manager ebenso wie für Kinder oder ältere Menschen.

Gobrecht ortet allerdings eine Tendenz, “das Märchen in Richtung Esoterik abzuschieben”. Dagegen wehrt sie sich vehement.

“Märchenhafter Rahmen”

Erstmals findet bis am 12. Mai die Frühjahrstagung der Europäischen Märchengesellschaft in der Schweiz statt. Der Gastort Baden sei eigentlich eine Märchenstadt, sagt Barbara Gobrecht. Viele Geschäfte haben zudem das Thema mit speziellen Schaufenster-Gestaltungen aufgegriffen.

Natürlich fehlt auch die Sage nicht, die den Ruf der Bäderstadt an der Limmat begründet haben soll: Die Badener Quellen seien 58 vor Christus von einem Jüngling auf der Suche nach einer verirrten Ziege entdeckt worden. Seine gelähmte Braut soll dank des heissen Wassers auf wundersame Weise gesund geworden sein.

Das Land der Sagen

Sagen haben allgemein in der Schweiz eine grosse Bedeutung: Jede Region kennt ihre Sagen. Die Region Thunersee ist bei weitem nicht das einzige Tourismus-Gebiet, das sich auf seine Wurzeln besinnt und sie zu vermarkten versucht.

Speziell ist in der Schweiz auch, dass viele Sagen und Volksmärchen in den lokalen Dialekten weitergegeben und teilweise auch aufgeschrieben wurden. In den Erzählkreisen werden die Dialekte ebenfalls gepflegt.

Putzwütige Frau Holle

Für Barbara Gobrecht ist faszinierend, dass viele Geschichten einerseits lokal verankert sind, andererseits während Jahrhunderten den Weg über die Sprachgrenzen hinweg gefunden haben.

Dabei gebe es durchaus regionale Besonderheiten, erzählt Gobrecht weiter. Während beispielsweise in der Deutschschweizer Version von “Frau Holle” das Putzen betont werde, komme in den italienischen und französischen Fassungen die Erotik viel stärker zum Zug.

Märchen allüberall

Europaweit ist die Erzählforschung (dazu gehören vor allem Legenden, Sagen, Volks- und Kunstmärchen) recht intensiv. Der bekannteste Schweizer Wissenschafter im letzten Jahrhundert war sicher Max Lüthi. Er betonte die “welthaltige” Bedeutung des Märchens, zeigte auf, dass die Geschichten mitten im Leben stehen und allen etwas bieten.

Heutige Forscherinnen und Forscher beschäftigen sich übrigens nicht bloss mit alten Geschichten, sondern beispielsweise auch mit Hollywood-Filmen oder den “Harry Potter”-Büchern. Denn die klassischen Märchen-Merkmale (gut und böse, scheitern und siegen oder das Happy-End) finden sich auch in aktuellen Produktionen.

“Das Märchen gehört ja heute zum wenigen Basiswissen, das jeder kennt”, erklärt Barbara Gobrecht. Es sei deshalb nicht erstaunlich, dass Bestseller bisweilen gar auf ganze Versatzstücke aus Märchen zurückgreifen würden: “Damit kann man sich Erfolge sichern.”

Eva Herrmann

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