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“Muslime misstrauen dem Westen”

Tariq Ramadan sieht einen tiefen Graben zwischen den Muslimen und dem Westen. Keystone

Fünf Jahre nach den Anschlägen vom 11. September liegt das Vertrauensverhältnis zwischen Muslimen und dem Westen in Scherben, sagt der Westschweizer Islam-Wissenschafter Tariq Ramadan.

Viele Muslime seien anfänglich auf Seiten der Opfer gewesen. Die Kriege in Irak und Libanon hätten die Lage verändert, stellt er gegenüber swissinfo fest.

Mitverantwortlich für den Meinungsumschwung seien auch die im Westen verbreiteten Vorurteile gegenüber dem Islam, sagt Tariq Ramadan. Der Autor von über 20 Büchern über den Islam weilt gegenwärtig zu Forschungsaufenthalten an der Universität von Oxford sowie bei der Lokahi Foundation in London.

Nach den Bombenanschlägen von London im Juli 2005 wurde der Wissenschafter von der britischen Regierung in eine Task Force berufen, welche Mittel und Wege gegen islamische Radikalisierung erarbeitet.

swissinfo: Wie fühlen Muslime über den 11. September?

Tariq Ramadan: Die grosse Mehrheit der Muslime verurteilte das Geschehene. Das war nicht islamisch und entgegen unserer Werte, lautete der Tenor.

Es gibt aber ein sehr grosses Vertrauensdefizit angesichts dessen, was seither geschehen ist: Die Sicherheitspolitik des Westens hat dazu geführt, dass sich Muslime bedroht oder gar verfolgt fühlen. Deshalb fällt die Wahrnehmung der Konsequenzen aus 9/11 sehr negativ aus.

swissinfo: Ist die Stimmung zwischen dem Islam und dem Westen von tiefem Misstrauen geprägt?

T.R.: Ja. In den Augen des Westens stellt der Islam immer noch ein Gefahrenpotenzial dar, nicht nur durch die Radikalen und Extremisten, sondern die Muslime generell.

Das zeigt beispielsweise die Affäre um die Mohammed-Karikaturen. Der Westen auf der einen Seite sagt, dass Muslime gegen seine Werte wie die Redefreiheit seien. Auf der anderen Seite erklären die Muslime, dass der Westen gegen den Islam sei. Diese Haltung wird durch eine negative Rolle einiger muslimischer Anführer noch geschürt.

swissinfo: Nach dem 11. September gab es zahlreiche Aufrufe an die beiden Lager, sich besser zu verständigen und zu verstehen. Gibt es, fünf Jahre später, Fortschritte?

T.R.: Die Situation ist heikel. Es hat viele Menschen gegeben, die eine bessere Verständigung gefordert haben. Dies wurde aber durch zahlreiche Ereignisse auf der ganzen Welt verhindert. Schliesslich sind viele Menschen stark von der Politik der USA sowie dem Schweigen und der Uneinigkeit der europäischen Regierungen beeinflusst.

Die islamische Welt hört den Westen über Demokratie und Menschenrechte sprechen. Gleichzeitig aber sieht sie, dass die Interventionen in Afghanistan und Irak keine Demokratie gebracht haben und dass die Menschen dort nicht würdig behandelt werden.

Darüber hinaus sind islamische Länder überzeugt, dass Israel grünes Licht erhalten hatte, in Libanon während mehr als fünf Wochen Menschen zu töten.

Es geht aber auch um die Politik der USA und Europas punkto Sicherheit und Immigration. Dazu gehört auch das jüngste Eingeständnis der Existenz geheimer Gefängnisse.

swissinfo: Unterscheiden Muslime zwischen Europa und den USA?

T.R.: Ja. Die gegenwärtige US-Regierung unter Bush wird als nicht vertrauenswürdig angesehen, da sie nur für ihre eigenen Interessen regiere. Europa hätte das Potenzial zu einer eigenständigen Politik, doch folgt es der US-Führung.

Der Widerstand Europas gegen den Irak-Krieg nährte Hoffnungen, dass einige europäische Regierungen eigene Haltungen entwickeln könnten. Der Krieg in Libanon aber hat gezeigt, dass die muslimische Welt von Europa wenig erwarten kann, denn es ist nicht mutig genug, sich auf die arabische Seite zu stellen.

swissinfo: Was sollte der Westen unternehmen, diese negative Wahrnehmung zu korrigieren?

T.R.: Es ist eine Frage der Kohärenz. Man kann nicht auf der einen Seite Demokratie fordern und auf der anderen mit Diktatoren zusammenarbeiten, welche die eigenen Ziele unterstützen oder einen Krieg nicht stoppen, in dem unschuldige Menschen sterben.

Es gibt noch ein anderes Phänomen: Den Diskurs über die Unmöglichkeit, Muslime zu integrieren. Dadurch werden sie an den Rand der Gesellschaften gedrängt. In Europa und den USA wird der Islam noch immer als etwas Fremdes dargestellt. Als teilten wir weder gemeinsamen Werte, noch könnten wir zusammen leben.

swissinfo Interview: Adam Beaumont
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Künzi)

Ramadan besitzt einen Doktortitel für arabische und islamische Studien der Universität Genf, ebenso Abschlüsse in Philosophie und französischer Literatur.
Er weilt gegenwärtig zu Forschungsaufenthalten an der Universität von Oxford und bei der Lokahi Foundation in London.
Er ist Präsident des European Muslim Network, einem Think Tank, der in Brüssel angesiedelt ist.

Tariq Ramadan ist der Enkel von Hassan-al Banna, der 1928 die Muslimbruderschaft gegründet hatte, eine der grössten Bewegungen der Glaubensrichtung.

Vor zwei Jahren verhinderte die US-Regierung, dass Tariq Ramadan an der Universität von Notre Dame in Indiana einen Lehrtätigkeit antreten konnte, aus “ideologischen Gründen”.

Ramadan, der in London lebt, will “Brücken zwischen den zwei Welten bauen, die einander nicht gut kennen”.

Er wurde beschuldigt, Anschläge in Irak und Libanon zu unterstützen. Ramadan hat die Anschläge vom 11. September 2001 und Juli 2005 in London öffentlich verurteilt, weil er gegen unschuldige zivile Opfer ist.

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