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“Wir generieren keine Popstars”

Jung und voller Ideen: Mara Miccichè, erste Master-in-Pop-Absolventin der Schweiz. zVg

Mitte Juni schliessen an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) fünf junge Musiker und eine Musikerin ihr Studium mit einem Master-Diplom in der Sparte Pop ab – ein Novum in der Schweiz. Die jungen Talente wollen ihre Berufung zum Beruf machen.

Für die 25-jährige Mara Miccichè aus Zürich gehört zur Popmusik alles, was nicht Klassik oder Jazz ist. “Pop hat viele Nischen. Mich interessiert vor allem der Independent-Bereich, der stetig wächst und einem dank Internet auch eine Vernetzung ausserhalb des Landes ermöglicht.”

Miccichè spielt Klavier seit dem vierten Lebensjahr und auch Gitarre. Ihr “Hauptinstrument” ist aber die Stimme und Musik ihre Hauptausdrucksform.

2006 begann sie an der ZHdK als eine der ersten fünf Studierenden mit dem Lehrgang in Popmusik, Mitte Juni wird sie als erste Musikerin der Schweiz ein Master-Diplom in Popmusik erhalten. Gelernt hat sie in diesen fünf Jahren viel, auch über sich selber.

Intensiv und hart

“Es war eine spannende Entwicklung, ich habe viel ausprobiert. Zuvor hatte ich eine Indie-Rock-Band, jetzt bin ich experimenteller geworden.” Sie sei auf gutem Weg, ihren eigenen Stil zu finden.

Die ersten zwei Jahre an der Schule beschreibt die Sängerin als sehr intensiv mit vielen Prüfungen und viel Theorie: Harmonielehre, Gehörbildung, Musikgeschichte, dann Instrumental-Unterricht sowie Pop-Styles- und Pop-History-Workshops quer durch alle Stilrichtungen – von den 1950er-Jahren bis heute.

Ab dem dritten, dem Bachelor-Jahr, können die Jungmusiker den Unterricht mehrheitlich frei nach ihren Interessen gestalten. Eine Jahrgangsklasse besteht jeweils aus fünf Leuten, die je entweder Gesang, Keyboard, Gitarre, Bass oder Schlagzeug studieren. So kommt eine Band zusammen, die in Workshops experimentiert und Erfahrungen sammelt.

Das Handwerk erlernen

Wer an der ZHdK Popmusik studieren will, muss eine Aufnahmeprüfung absolvieren. “Wir suchen Musiker, die bereits an Konzerten auftreten, Songs schreiben, im Tonstudio sind und jetzt die Gelegenheit ergreifen möchten, ihre Berufung zum Beruf zu machen”, sagt Heiko Freund, Leiter der Abteilung Pop an der ZHdK.

Ziel der Ausbildung ist, dass sich die Absolventen später mit der Popmusik den Lebensunterhalt verdienen können. “Ich sage meinen Studenten jeweils, dass wir ihnen ein Handwerkszeug mitgeben, das ihnen ermöglicht, verschiedene Rollen in der Popmusik einzunehmen.”

Es gebe ja nicht nur die Sängerin auf der Bühne, sondern auch die Leute hinter den Kulissen: den Songschreiber, den Gitarristen im Tonstudio, den Tonmischer – alles Berufsmusiker, die von ihrem Job lebten. “Wir bilden keine künftigen Popstars aus wie in Casting-Shows”, betont Heiko Freund.

Der Lehrgang entstand im Zuge der Bologna-Reform anfangs des neuen Jahrtausends. Der Gitarrist und Musikpädagoge Heiko Freund erhielt 2004 den Auftrag für eine Machbarkeitsstudie. “Die Zeit war reif für den Poplehrgang, wie die Zeit in den 1970er-Jahren reif für Jazz gewesen war”, sagt er.

Anregendes Umfeld

Aufgenommen werden junge Leute mit einer “Grundkreativität”. Er masse sich nicht an, aus Menschen das Besondere herauszuholen. “Kunstausbildung funktioniert für mich nicht als didaktisches Gefälle zwischen Meister und Lehrling. Wir bringen die jungen Leute hier in einen Kreis von Gleichgesinnten, Gleichtalentierten – gewürzt mit ein paar Menschen wie meinen Dozierenden und mir, die das professionelle Arbeiten schon lange kennen.”

Es sei mehr ein Coaching-Verfahren als Frontalunterricht, betont der Popmusik-Leiter. An der ZHdK werde nicht Kreativität vermittelt. “Wir tun das Gegenteil von Einschränkung in einem anregenden Umfeld.”

Wenn man ein paar talentierte Studierende in einen Raum bringe, sei genügend kritische Masse da, die sich selber entzünde. “Manchmal bemerke ich, dass es mich in diesem Raum gar nicht braucht. Dann gehe ich raus und komme erst in der nächsten Woche wieder, um zu schauen, was passiert ist”, sagt Freund.

Stilfrei

Gerade diese stilistischen Freiheiten mit null Einschränkung, sagt Mara Miccichè, habe sie sehr geschätzt. “Sonst hätte ich es nicht durchgezogen.” Gefallen hat ihr auch das familiäre Klima an der Schule.

“Und man lernt viele spannende Leute kennen, aus verschiedenen Ecken der Musik, es gibt neue Konstellationen und Synergien, woraus dann Neues entstehen kann.”

Mara Miccichè findet die isländische Sängerin Björk grossartig, doch beschränkt sie sich beim Musikhören nicht bloss auf Pop. Die junge Zürcherin singt Eigenkompositionen, bisher vor allem auf Englisch.

Einzigartiges schaffen

Ihre Master-Arbeit, die gleichzeitig ihr Hauptprojekt ist, heisst IOKOI, “Ein Wortspiel in meiner eigenen Sprache”. (Vgl. Link und Audio). Das Masterprojekt will sie auch nach der Diplomierung weiterziehen und damit auftreten, in Italien, wo sie häufig unterwegs ist, sowie in der Schweiz und hoffentlich nicht nur.

“Beim Singen geht es nicht um Perfektion. Singen kann jeder, jeder hat seine eigene, unverkennbare Stimme. Man kann lange an der Technik feilen, aber letztlich muss man den Mut haben, etwas Eigenes zu machen – hemmungslos, unreflektiert und neugierig”, so Miccichè.

Sie wünscht sich, eines Tages von der Musik leben zu können, was zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich sei. Was sie nicht möchte, ist um jeden Preis von der Musik leben müssen.

“Das würde mich kreativ einschränken.” So wird sie wohl nach ihrem Master, der auch ein pädagogisches Diplom ist, Musik unterrichten, sonst jobben und hoffentlich Konzerte spielen.

“Ich spüre den inneren Drang, mein Projekt raus in die Welt zu bringen, denn die Live-Energie ist etwas unbeschreiblich Wunderbares.”

Die Ausbildung in Popmusik an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), einer Fachhochschule, ist einzigartig in der Schweiz. Einen ähnlichen Lehrgang gibt es in der deutschen Stadt Mannheim.

Der Lehrgang existiert seit Herbst 2006 und ist im Rahmen der Bologna-Studien-Reform entstanden. 

Die Ausbildung an der ZHdK dauert fünf Jahre, drei bis zum Bachelor, zwei weitere bis zum Master-Diplom.

Die Klassen bestehen aus fünf Studierenden, die zusammen als Band funktionieren, eine Person pro Instrument: Gesang, Keyboard, Gitarre, Bass, Schlagzeug.

In den ersten zwei Studienjahren werden Instrumental-Technik, Gehörbildung, Harmonielehre, Musikgeschichte vermittelt. Dazu kommt Einzelinstrumental-Unterricht.

Ab dem dritten Jahr können sich die Musikerinnen und Musiker ihre Fächer weitgehend selber zusammenstellen.

Zum Abschluss des Masterstudiums gehört eine Dokumentation des Projekts, eine CD/DVD-Produktion und das Abschlusskonzert.

Die Schule hat zum Ziel, Berufsmusiker auszubilden, die sich mit ihrem Handwerk den Lebensunterhalt verdienen können.

An der Abteilung Pop studieren vor allem junge Leute aus der Deutschschweiz. Frauen sind rar, namentlich unter den Instrumentalisten.

Die Abteilung Pop an der ZHdK wird vom Gitarristen und Musikpädagogen Heiko Freund geleitet.

Geboren 1985. Aufgewachsen in Zürich, Muttersprache Italienisch.

Nach der Matura studierte Miccichè für ein Semester an der Uni, ging auf Reisen und begann im Herbst 2006 den Lehrgang in der Sparte Pop an der ZHdK.

Sie spielte in verschiedenen Bands. Ihr Instrument ist ihre Stimme, sie spielt aber auch Klavier und Gitarre.

Nach Abschluss des Masterstudiums will sie teils in der Schweiz, teils in Italien leben und Konzerte geben. 

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