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Ägyptischer Kulturfrühling mit Schweizer Note

Zeichen des politischen Umbruchs in der aktuellen ägyptischen Kunst. swissinfo.ch

Nach dem Sturz des Regimes bauen die Ägypter an einer neuen Gesellschaft. Zahlreiche Komitees und Arbeitsgruppen entwerfen Strategien und Visionen. Die Kulturschaffenden diskutieren dabei auch das Schweizer Modell der Kulturförderung.

In einer leerstehenden Wohnung im Zentrum Kairos treffen sich an einem Montag im März Künstlerinnen und Journalisten, Kulturmanager und Tänzerinnen, Literaten und Schauspielerinnen zur Lagebesprechung.

Die Sitzung beginnt verspätet. Der Verkehrsstau fordert im nachrevolutionären Kairo noch grössere Opfer als sonst, das Chaos ist beispiellos, nicht nur auf den Strassen. Fragen von grosser Tragweite stellen sich: Wie soll die politische Landschaft künftig aussehen? Was ändert sich für Kultur und Medien nach der Stunde Null?

Die Kulturschaffenden wollen die historische Chance des Neuanfangs nicht verpassen: “Jetzt findet ein politischer Prozess im Land statt, daran wollen wir uns beteiligen”, sagt Basma el-Husseini, Direktorin des unabhängigen Kulturzentrums “El Mawrid el Thaqafi” gegenüber swissinfo.ch. Sie hat dieses Treffen initiiert. Insgesamt koordiniert sie Diskussionen unter rund 200 Personen in zahlreichen Arbeitsgruppen.

Diese hier beschäftigt sich mit kulturpolitischen Strategien und Forderungen an den neuen Kulturminister. “Wir verlangen, dass die zahlreichen Veranstaltungslokale, die bisher der staatlichen Kultur vorbehalten und ausserdem meistens geschlossen waren, für unabhängige Künstler, Sängerinnen und Tänzer geöffnet werden”, sagt El-Husseini. Auch die Zensur ist ein Thema. Deren Abschaffung sei allerdings nicht von heute auf morgen zu erreichen, denn dafür brauche es eine Änderung in der Gesetzgebung. Ein erstes und vorläufiges Ziel sei es, die Prozedur im Bewilligungsverfahren für kulturelle Produktionen zu vereinfachen, sagt die Kulturaktivistin.

Nichtstaatliche Kultur fristet Schattendasein

Im autoritären Überwachungsstaat Mubaraks mussten nicht nur unabhängige Medien und Menschenrechtsgruppen ums Überleben kämpfen, sondern auch die Kulturszene, die sich ausserhalb des staatlichen Programms bewegte. “Es gab einen riesigen, bürokratischen, mit viel Geld aufgepumpten staatlichen Kultursektor, der keine gute künstlerische Arbeit hervorbrachte. Daneben hatte der nichtstaatliche Sektor fast kein Geld zur Verfügung, ausser von ausländischen Institutionen und Kulturinstituten”, sagt Basma el-Husseini. Die Kulturförderung sei ausschliesslich der staatlichen Kultur zugeflossen. Dieses Ungleichgewicht soll nun korrigiert werden.

Mit dabei in dieser Runde aus Kulturschaffenden ist auch Hebba Sherif, Direktorin des Kairoer Büros der Pro Helvetia. Sie ist nicht in beruflicher Funktion hier, sondern als kulturell engagierte Staatsbürgerin. Doch nutzt sie ihre Kenntnis der Schweizer Verhältnisse und empfiehlt das Schweizer Modell der Kulturförderung zur Nachahmung.

“In der Schweiz ist das Bundesamt für Kultur für die Kulturpolitik zuständig, während die Pro Helvetia in eigener Regie Kulturförderung betreibt”, sagt Hebba Sherif: “Parallel dazu müssten wir in Ägypten erreichen, dass das Supreme Council of Culture, das die Fördergelder verteilt, vom Kulturministerium getrennt und so unabhängig von politischer Einflussnahme wird.” Der Vorschlag stösst in der Runde auf grosse Zustimmung. Er soll zusammen mit weiteren Forderungen und Anregungen an die Medien, die politischen Parteien und direkt an den neuen Kulturminister Emad Abu Ghazi vermittelt werden.

In die Aufbruchsstimmung mischt sich Sorge

Emad Abu Ghazi ist auffallend gesprächsbereit – ein Novum für die nichtstaatliche Kulturszene, die während Jahrzehnten nichts zu sagen hatte. Bereits am zweiten Tag nach seiner Amtseinsetzung hat er sich mit Künstlern des Kairo-Ateliers getroffen und anschliessend mit weiteren Gruppen von Kulturschaffenden.

Auch die Choreographin und Tänzerin Karima Mansour hat mit ihm gesprochen, und zwar über die Zukunft des Zeitgenössischen Tanzes. Sie warnt allerdings davor, sich allzu grosse Hoffnungen zu machen: “Er ist zwar zugänglich und engagiert, aber ich bezweifle, dass er sofort sehr viel verändern kann. Zudem ist er Minister in einer Übergangsregierung und wird vielleicht in einigen Monaten ersetzt werden.”

Karima Mansour hat erst im Februar ein Tanzprojekt in der Schweiz abgebrochen und ist nach Kairo zurück gekehrt, um in diesem historischen Moment in ihrer Heimat zu sein. Sie hat es nicht bereut, aber in die Aufbruchsstimmung mischt sich Sorge um die Zukunft: “Alles ist noch völlig offen und unsicher. Wir können nur abwarten, hoffen und zugleich weiterarbeiten.” Am 2. April soll zeitgleich in mehreren ägyptischen Städten ein Festival für und über die Revolution stattfinden. Karima Mansour: “Noch warten wir auf die Bewilligung der Behörden.”

Die Schweizer Kulturförderung geschieht im wesentlichen durch die öffentlich-rechtliche Stiftung Pro Helvetia, die einzelne Kunstprojekte unterstützt, Werkstipendien vergibt und den Kulturaustausch sowohl in der Schweiz wie international fördert.

Finanziert wird die Stiftung durch den Bund. Sie ist aber in ihren Entscheidungen inhaltlich unabhängig.

Das Bundesamt für Kultur (BAK) ist für die kulturpolitischen Leitlinien der Schweiz zuständig. Ausserdem untersteht dem BAK die Filmförderung und die Auszeichnungspolitik (Vergabe von Preisen).

Am 1. Januar 2012 tritt ein neues Kulturförderungsgesetz in Kraft, in dem das BAK neue Aufgaben im Bereich der Förderung der musikalischen Bildung sowie der Bewahrung des kulturellen Erbes erhält und die Organisation der Pro Helvetia modernisiert wird.

In der kürzlich verabschiedeten Kulturbotschaft schlägt der Bundesrat dem Parlament vor, für die Jahre 2012-2015 einen Kredit von 638 Mio. Franken für die Kulturförderung zu sprechen.

Der bisherige Kulturminister Farouk Hosny, ein enger Freund Mubaraks, war 23 Jahre im Amt, bis zum Sturz des Präsidenten. Die staatliche Kultur stand im Verruf, korrupt, unkritisch und von schlechter Qualität zu sein.

Nichtstaatliche Kulturschaffende litten unter Zensur, fehlenden Auftrittsmöglichkeiten und chronischem Geldmangel.

Unterstützt wurden sie von ausländischen Institutionen wie dem Goethe-Institut, der Pro Helvetia, dem British Council, dem Centre Culturel Français, der Ford Foundation, dem Open Society Institute, der European Cultural Foundation.

25. Januar 2011: Grossdemonstration auf dem Tahrirplatz fordert den Rücktritt Mubaraks.

28. Januar: Freitag des Zorns mit massivem Gewalteinsatz der Polizei.

11. Februar: Rücktritt Mubaraks und Übernahme der Macht durch den Militärrat.

4. März: Militärrat entlässt den alten Premierminister und setzt den Favoriten der Protestbewegung ins Amt, Essam Sharaf. Dieser bildet die Übergangsregierung mit Emad Abu Ghazi als neuem Kulturminister.

19. März: Referendumsabstimmung über die Änderungen zur alten Verfassung wird von der Bevölkerung mit 77% der Stimmen angenommen.

Bis September sollen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden.

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