New York und Washington:Suche nach Opfern und Drahtziehern

Das Ausmass der verheerenden Anschlags-Serie in den USA bleibt unklar. Die Suche nach Überlebenden und die Jagd auf die Drahtzieher der Terror-Aktionen laufen auf Hochtouren. US-Präsident George W. Bush bezeichnete die Angriffe als "Kriegshandlung". Als möglichen Drahtzieher haben die USA den islamischen Extremisten Osama bin Laden im Visier, warnten aber vor endgültigen Schuldzuweisungen. Die Taliban in Afghanistan - dort soll sich bin Laden aufhalten - haben Gesprächs-Bereitschaft signalisiert.
Nach der beispiellosen Anschlagserie mit vermutlich Tausenden von Toten nehmen die USA den Terroristen Osama bin Laden ins Visier. Die Hinweise auf den saudiarabischen Millionär als Drahtzieher der Attentate verdichteten sich. Das ergaben nach Angaben von Regierungs-Beamten erste Fahndungs-Ergebnisse. Nach Medienberichten kam es zu ersten Festnahmen.
Bush erklärte, die USA hätten es mit einer neuen Art von Feind zu tun, der «aus dem Schatten» zuschlage. Danach davon renne und sich verberge. Doch dieser Feind werde sich nicht immer verbergen können. Die Hintermänner der Terror-Angriffe würden zur Rechenschaft gezogen, versprach Bush seinen Landsleuten.
Nach Angaben von Senator Orrin Hatch hörte der Geheimdienst ein Gespräch zwischen zwei Anhängern bin Ladens ab, in dem von gelungenen Angriffen auf zwei Ziele gesprochen worden sei. Alles deute in Richtung des von den Taliban in Afghanistan versteckt gehaltenen bin Laden, sagte Hatch. Bin Laden selbst beglückwünschte die Attentäter, bestritt aber jede Beteiligung.
Das Taliban-Regime bot den USA Gespräche über eine mögliche Auslieferung des in Afghanistan lebenden mutmasslichen Terror-Drahtziehers Osama bin Laden an. «Wir sind bereit, mit den Vereinigten Staaten über das Schicksal von Osama bin Laden zu verhandeln, aber die USA müssen uns zuerst genügend Beweise gegen ihn übergeben», sagte der Taliban-Botschafter in Pakistan, Mullah Abdul Salam Saif.
Militär weltweit alarmiert
Die US-amerikanische Armee ist weltweit in höchster Alarmbereitschaft. Auch verschiedene weitere Staaten – darunter Israel und Frankreich – haben ihre Bereitschaft massiv erhöht.
Der UNO-Sicherheitsrat rief die Weltgemeinschaft am Mittwoch auf, ihre Anstrengungen gegen den Terrorismus zu verdoppeln. In einer einstimmig verabschiedeten Resolution erklärte sich das höchste Entscheidungs-Gremium der UNO «entschlossen, Terrorakte als Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen».
Abzug der UNO aus Afghanistan, IKRK bleibt
Nach den verheerenden Anschlägen in den USA hat die UNO beschlossen, ihr ausländisches Personal bis Donnerstag aus Afghanistan abzuziehen. Es handle sich um eine «vorübergehende» Massnahme, teilte die UNO mit.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK hat entschieden, vorläufig in Kabul zu bleiben.
Auch die NATO reagierte auf die Terrorakte: Das zivile Personal am Hauptsitz der Allianz in Brüssel wurde angewiesen, nicht zur Arbeit zu kommen. Die Botschafter der 19 NATO-Staaten beraten über mögliche Reaktionen auf die verheerende Terrorwelle. Unter anderem geht es um einen Vorschlag einer Deklaration, nach welcher ein terroristischer Angriff auf die USA als Angriff auf alle NATO-Staaten zu werten sei.
EU-Kommissar Romano Prodi sicherte den USA die «totale Solidarität» Europas zu. «In der dunkelsten Stunde der europäischen Geschichte ist Amerika uns zu Hilfe geeilt, heute wollen wir Amerika zu Hilfe eilen», sagte Prodi weiter. Die EU rief für Freitag einen Trauertag in allen Staaten der Union aus.
Der Terror aus der Luft
Am Dienstagmorgen (Ortszeit) hatten terroristische Selbstmörder vier Flugzeuge der Gesellschaften United Airlines und American Airlines mit insgesamt 266 Insassen auf Inlandflügen in ihre Gewalt gebracht und auf die beiden mehr als 400 Meter hohen Türme des World Trade Centers in New York und das Verteidigungs-Ministerium, das Pentagon in Washington, gelenkt.
Die 110 Stockwerke hohen Bürotürme und ein dritter, 47 Stockwerke hoher Wolkenkratzer stürzten ein. Auch ein Teil des Pentagons fiel brennend in sich zusammen. Die vierte Maschine stürzte in der Nähe von Pittsburgh auf freiem Feld ab. Offenbar habe diese Maschine den Präsidentensitz in Camp David oder das Weisse Haus treffen sollen, hiess es. Die Black Box, die die letzten Gesprächsminuten aufzeichnet, wurde bereits gefunden. Von den Aufzeichnungen erhoffen sich die Ermittler aufschlussreiche Informationen.
Erste Anhaltspunkte für den Ablauf der Anschläge geben die Handy-Gespräche von zwei Passagieren und einer Flugbegleiterin kurz vor den Abstürzen. Sie berichteten übereinstimmend von drei bis fünf Entführern, die mit messerartigen Waffen die Gewalt über die Maschinen erzwungen hätten. Dramatische Szenen mussten sich in den letzten Minuten in den Maschinen, den brennenden Türmen und im Pentagon abgespielt haben.
Fahnder sprachen von Hinweisen, wonach die Terroristen sich bewusst Langstreckenflüge ausgesucht hätten, um mit der grossen Treibstoffmenge an Bord ein maximales Mass an Zerstörung zu erzielen. Nach derzeitigem Stand der Erkenntnisse muss es sich bei den Entführern um ausgebildete Piloten gehandelt haben.
Nach Einschätzung von Bauingenieuren war der Anschlag auf die Türme des World Trade Center das Werk von Leuten, die genau über die Statik des einzigartigen Bauwerks Bescheid wussten. Der Kombination aus den heftigen Anschlägen und dem anschliessenden Feuer infolge auslaufenden Flugbenzins hätte kein Gebäude in der Welt widerstehen können.
Unzählige Menschen starben
Auch 24 Stunden nach der Katastrophe ist unklar, wie viele Menschen ums Leben kamen.
In den Trümmern des eingestürzten World Trade Centers, die auch am Mittwoch teilweise noch in Flammen standen, gingen mit Unterstützung der Nationalgarde die Bergungs-Arbeiten weiter. Zurzeit wird davon ausgegangen, dass sich während des Unglücks 10’000 bis 20’000 Menschen in den Gebäuden aufhielten. Über Opferzahlen ist jedoch noch nichts bekannt. Wahrscheinlich ist, dass 250 Feuerwehrleute und 80 Polizisten (die nach dem ersten Crash helfen wollten) getötet wurden.
Die Bergungs- und Rettungsarbeiten gestalteten sich schwierig: Überall verstreut lagen Leichenteile. Immer wieder drohten Einstürze. Ein Wettlauf gegen die Zeit ist im Gang. Besonders in den übrigen Gebäuden des riesigen Handelskomplexes in Süd-Manhattan hoffen die Retter noch auf zahlreiche Überlebende.
Dutzende von Spitälern richteten Notfallstationen ein. Die ganze Nacht hindurch brachten Fähren Leichen über den Fluss Hudson. Taxiunternehmen entfernten die Sitze aus ihren Fahrzeugen, um beim Transport der Toten zu helfen.
Über dem Pentagon in Washington stand am Mittwoch immer noch eine Rauchwolke. Es wird befürchtet, dass allein an dieser Anschlagsstelle bis zu 800 Menschen getötet wurden.
Angeblich befinden sich unter den Toten mehrere Tausend israelische Staatsbürger. Nach israelischen Medienberichten hat das Aussenministerium in Jerusalem eine Liste von 4’000 Israelis erstellt, die sich zum Zeitpunkt der Attacken in den Zielgebieten aufhielten.
Schweizerin getötet
An Bord der Flugzeuge, die abgestürzt sind, befanden sich 266 Menschen. Unter den Opfern befindet sich auch eine Schweizerin, wie Botschafter Walter Thurnherr vom Schweizerischen Aussenministerium (EDA) bestätigte. Es gibt Hinweise auf weitere Schweizer Opfer: 700 Schweizer hatten sich laut EDA bis Mittwochabend nicht bei ihren Angehörigen gemeldet. Bis genaue Zahlen über Opfer vorliegen könne es noch Tage oder Wochen dauern.
Wie die amerikanische Handelskammer in der Schweiz mitteilte, befanden sich keine Schweizer Unternehmen in den Türmen des World Trade Centers. Der Finanzkonzern Credit Suisse Group, der seine Büros in einem der Nebengebäude hat, konnte alle 800 Angestellten evakuieren. Die Grossbank UBS teilte mit, dass zwei ihrer Mitarbeitenden vermisst seien.
Im Katastrophengebiet von Manhattan wohnen 14 Schweizer Bürger, wie EDA-Sprecherin Daniela Stoffel sagte. Eine Person sei kontaktiert worden, die anderen habe man bisher nicht erreichen können.
Weltweite Trauer
Tief erschüttert über die verheerenden Terroranschläge in den USA haben die Regierungen vieler Länder am Mittwoch Trauerbeflaggung angeordnet und Sportveranstaltungen und Konzerte abgesagt. Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte, die Bürger seines Landes wollten am Donnerstag in einer Schweigeminute der Opfer in New York und Washington gedenken. Die russische Luftwaffe sagte ein geplantes Manöver auf Bitten der USA ab. Der Europäische Fussballverband UEFA strich alle europäischen Pokalspiele für Mittwoch und Donnerstag.
Swiss Re – Milliardensumme
Versicherungen werten die Terroranschläge in den USA als eine der schlimmsten Katastrophen der Geschichte. Die Schäden werden von Fachleuten nach ersten Schätzungen auf insgesamt bis zu 15 Milliarden Dollar geschätzt, wie ein Analyst der US-Ratingsagentur Moody’s erklärte. Teurer waren bisher nur Naturkatastrophen wie Wirbelstürme, Fluten und Erdbeben.
Der Rückversicherungs-Konzern Swiss Re bezeichnet die Anschlag-Serie als eines der grössten Schadenereignisse seiner Geschichte. Gemäss Swiss Re-Sprecher Johann Thinnhof dürften sich die Verpflichtungen des Konzerns allein auf etwa 1,2 Mrd. Franken belaufen.
Diskussion über Sicherheitsvorkehrungen
In den USA hat derweil eine Debatte über die offenkundigen Sicherheits-Mängel an den Flughäfen eingesetzt. Am Euro-Airport in Basel-Mülhausen wurden die Sicherheits-Massnahmen nach den Terroranschlägen verstärkt. Die Flughäfen Zürich-Kloten und Genf-Cointrin verzichten nach eigenen Angaben hingegen auf spezielle Massnahmen.
Bin Laden seit Jahren vom Schweizer Staatsschutz beobachtet
Die Rolle des saudiarabischen Millionärs Osama bin Laden im internationalen Terrorismus wird seit Jahren auch vom Schweizer Staatsschutz beobachtet. Der Hauptverdächtige für die jüngste Terrorwelle in den USA wurde immer wieder als Hintermann des Attentats von Luxor vom November 1997 genannt, dem 58 Menschen – darunter 36 Touristen aus der Schweiz – zum Opfer gefallen waren.
Diese Spekulationen liessen sich aber nicht durch konkrete Beweise belegen, wie es im Staatsschutzbericht von 1999 heisst. Im gleichen Jahresbericht hielt das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement auch fest: «Abklärungen ergaben keinerlei Erkenntnisse über organisatorische oder finanzielle Strukturen zur Unterstützung Bin Ladens in der Schweiz oder aus der Schweiz.»
Ähnliches hatte der Staatsschutz bereits ein Jahr zuvor festgehalten. Im jüngsten Bericht über das Jahr 2000 fehlt ein entsprechender Hinweis. Bin Laden hatte ausserdem in den vergangenen Jahren wegen der Anwesenheit seines Halbbruders, des Geschäftsmanns Jeslam bin Laden, in Genf für Aufsehen gesorgt. Der Kanton Genf hatte letztes Jahr ein Einbürgerungsgesuch des Geschäftsmanns abgelehnt.
swissinfo und Agenturen

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