Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Architektur mit den Winden

Die neuen Ställe mit der Metzgerei im Vordergrund fügen sich harmonisch in das Vriner Ortsbild ein. (Lucia Degonda, Zürich) Lucia Degonda, Zürich

Vorbildcharakter für den gesamten Alpenraum: Der Bündner Gion Caminada zeigt seine Architektur bei kunst Meran im Südtirol.

Die Gesamtschau zeichnet Caminadas Weg, ausgehend vom traditionellen “Strickbau” zum virtuosen Betonkern eines Mädchen-Internats in Disentis.

“Cul zuffel e l’aura dado” (frei übersetzt: Architektur mit den Winden): Romantisch hört sich der rätoromanische Titel der Architektur-Ausstellung bei Kunst Meran im Südtirol an.

Mit Romantik hat das aber wenig zu tun. Der Zuffel ist ein rauher Wind, der über die südlich gelegenen Berghänge ins Lugnez im Kanton Graubünden fegt, ähnlich dem Föhn. Und “l’aura dado” wird der kalte, bissige Nordwind genannt, der den Einwohnern von Vrin durch Mark und Bein fährt.

Gion Caminadas Architektur ist den Winden verpflichtet, die das Leben in Vrin, seiner Heimat, prägen. Dies zeigen auch Lucia Degondas Ausstellungsfotografien. Sie stellen Caminadas Werke im Lugnez weder als Postkarten-Idylle noch als nostalgische Bergbauern-Romantik dar.

Sie dokumentieren aber, gleichermassen ästhetisch wie realitätsbezogen, dass Caminadas Produkte sich sehr wohl in einer klimatisch harten Umgebung behaupten können.

Antworten, nicht nur Fragen

“Wir haben versucht, eine Ausstellung über Architektur in den Bergen zu machen, welche nicht nur Fragen aufwirft, sondern auch Fragen beantworten kann”, erklärt die Kuratorin, Bettina Schlorhaufer gegenüber swissinfo.

Und da sei man auf Gion Caminada gestossen. Sein Hauptverdienst bestehe nicht nur in der Errichtung und Weiterentwicklung von Bauten nach traditionellen Methoden, der des Strickbaus in massiver Holzbauweise. “Caminada hat schon zu Beginn seines Wirkens in seiner Heimat eine Art städtebaulicher Studie gemacht”, erklärt die Kuratorin.

“Modell Vrin”

Gion Caminada hat bei der Verwirklichung seiner Ideen in seinem Heimatort Vrin darauf geachtet, Dorf- und Landschaftsbild zu erhalten.

So beginnen die Entwurfsprozesse Caminadas analytisch, mit sozioökonomischer Grundlagenforschung. Damit versucht er, über konventionelle Lösungen hinaus Verbesserungen zu erreichen, welche das Leben im 277-Seelen-Dorf Vrin angenehmer und Natur und Architektur zu gleichberechtigten Partnern machen.

Für jeden Stall, für jedes Wohngebäude im Dorf legten Caminada und der kantonale Denkmalschützer Datenblätter an. Sie datierten und untersuchten, ob die Gebäude noch reparabel waren oder ob man sie abreissen sollte. “Und daraus ist das Gesamtkonzept von Gion Caminada entstanden”, erklärt Bettina Schlorhaufer. Anerkennung wurde ihm unter anderem zuteil mit dem renommierten Arge-Alp-Preis 2004.

Stiva da morts

In früheren Zeiten noch üblich, wird heutzutage das traditionelle Totenritual des zu Hause Aufbahrens immer seltener. Menschen sterben häufiger auswärts – im Spital oder Altersheim.

Caminada schälte diese Problematik aus seinen soziokulturellen Studien heraus. Seine Lösung: Die Totenstube, romanisch “Stiva da morts”. Der Begriff “Aufbahrungshalle” wird der Totenstube nicht gerecht.

Ausgeführt ist die Totenstube im traditionellen, von Gion Caminada perfektionierten und modernisierten Strickbau. Doch davon ist aussen nichts mehr zu sehen. Die Holzfassade ist weiss gestrichen. Damit gleicht sie sich farblich der Kirche an und hebt sich von den Vriner Holzhäusern ab.

Der Innenausbau aus massivem Holz erhielt einen Schutzanstrich aus Schellack – ein eigenartiger Kontrast.

Telefonzelle? Telefonzelle!

Auch die abgelegen wohnende Vriner Bevölkerung will nicht auf die Vorteile moderner Kommunikationstechnik verzichten. So hatte sie nichts dagegen, dass 1997 eine Telefonzelle installiert werden sollte.

Aber musste den Dorfplatz denn ein hässlicher Metall-Glas-Kasten verunstalten? Die Vriner sagten “Nein” und Gion Caminada baute unter dem Motto “von ihnen die Fülle, von uns die Hülle” eine hölzerne Telefonkabine.

Casa Walpen

Als weiteres Beispiel für die raffinierte Baukunst Gion Caminadas zeigt die Ausstellung in Meran das Zweit-Haus des Direktors der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG, Armin Walpen.

Das Haus thront über Brig und Naters im Walliser Dorf Blatten. Es ist den alten, auf Sockeln stehenden Walliser-Häusern nachempfunden.

Der Katalog meint dazu: “So klar seine Disposition ist, so reich und expressiv ist der Typ ausgearbeitet, mit einer komplexen, differenzierten Raumgestaltung und einer eindrücklichen physischen Präsenz der Materialien.”

Der Mädchenturm zu Disentis

Mit dem “Unterhaus”, einem Mädcheninternat der Klosterschule Disentis, ist Caminada ein besonderer architektonischer Wurf gelungen. Ein Betonturm ist der Kern des fünfgeschossigen Gebäudes.

Tatsächlich, die Ausschneidungen und die minimalistische Gesamtkonzeption des Turmes sind bereits ein Kunstwerk für sich. Integriert darin sind das Treppenhaus, die Liftanlage und eine kleine Teeküche für jedes Stockwerk.

Weiter wurde auf jedem Stockwerk eine Art Kuschelecke eingerichtet, eine beheizte, mit Messingplatten verkleidete Ofenbank. Sehr ästhetisch und gemütlich!

Die Ausstellung “Cul zuffel e l’aura dado” über Gion A. Caminada ist bis am 26. Juni 2005 täglich ausser montags bei kunst Meran im Haus der Sparkasse in Meran zu besichtigen. An der Übernahme der Ausstellung ist auch das Kunstmuseum Chur interessiert.

swissinfo, Etienne Strebel, Meran

Gion A. Caminada:
1957 in Vrin geboren
Bauschreiner-Lehre
Besuch der Kunstgewerbeschule
Nachdiplomstudium Architektur ETH
Architekturbüro in Vrin
Seit 198 Assistenz-Professor für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich

Werkverzeichnis:
Orts- und Gestaltungsplanung, Vrin
Um- und Neubau Gemeindehaus, Vrin
Neubau Gemeindehalle, Vrin
Neubau Schulhaus, Duvin
Wohnhäuser und Ställe, Lugnez und Surselva
Wohnhaus Walpen, Blatten
Telefonkabine, Vrin
Schlachthaus für Direktvermarktung, Vrin
Totenstube (Stiva da morts), Vrin
Umbau Hotel Alpina, Vals
Neubau “Unterhaus”, Mädcheninternat der Klosterschule, Disentis

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft