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Aus mit dem Sonderfall Schweiz

Die Schweizer Presse findet Lob und Kritik für den Bergier-Schlussbericht. swissinfo.ch

Der Blick zurück in eine teils unrühmliche Schweizer Vergangenheit ist getan. Ganze fünf Jahre hat er gedauert.

Die gigantische Arbeit der internationalen Historiker-Kommission hat in der Schweizer Presse ein überwiegend wohlwollendes Echo ausgelöst. “Bergier: Viel Lob für harte Kritik” und “Freundliches Nicken” kommentiert etwa der Zürcher “Tages-Anzeiger”.

Zwei Erkenntnisse seien es wert, sich im öffentlichen Bewusstsein auf Dauer festzusetzen: “Erstens, die Schweiz, dieses enge Land, neigt nicht zum Grosszügigen. In jener Zeit, als in Europa die Nazis die Juden vernichteten, sorgte sich das Land vor allem darum, nicht zu viele von diesen Juden aufnehmen zu müssen.”

Und: “Zweitens, es war eher der Staat, der in jener finsteren Zeit versagte, als die Wirtschaft.”

“Wir waren keine Helden”

Bis auf einige Veteranen werde sich zu diesem Zeitpunkt über den Schlussbericht niemand mehr übermässig enervieren, meint der Tages-Anzeiger – obschon die staatlich finanzierte Kommission Dinge schrieb, die einem Historiker vor zwanzig Jahren noch ein Berufsverbot eingebracht hätten.

“Dass der Bundesrat dazu bloss freundlich nickt, zeigt, wie normal der Schweizer Sonderfall inzwischen geworden ist.”

Die zurückhaltende Reaktion seitens der Regierung liefert auch der “Berner Zeitung” eine Schlagzeile: “Bundesrat will nicht urteilen”.

Ob die offizielle Schweiz zu weit gegangen sei in ihrem Wohlverhalten gegenüber dem Nazi-Regime sei schwer zu sagen, meint das Blatt weiter.

Was seit Bergier jedoch ausser Zweifel stehe: “Wir waren keine Helden; Banken und Versicherungen haben sich bereichert; und wir haben unzählige jüdische Flüchtlinge zurückgewiesen und deren Tod mitverursacht. Damit haben wir Schuld auf uns geladen, die man zwar erklären, aber nicht verzeihen kann.”

Licht und Schatten

Von Licht und Schatten im Bergier-Schlussbericht schreibt der “Blick”: “Schweizer finanzierten Hitlers Kristallnacht” und “Schlechte Noten für den Kriegsbundesrat” titelt das Boulevardblatt, betont dann aber auch, dass längst nicht alle Vorwürfe auf dem Höhepunkt der Debatte von 1997 bestätigt worden seien. Die Schweiz habe nicht als Waffenschmiede für die Nazis agiert und den Zweiten Weltkrieg nicht verlängert.

Die “Basler Zeitung” meint, die Dimensionen des Krieges wären dafür denn doch zu gigantisch gewesen. Und Historiker seien eben keine Richter. “Die Strategie von Widerstand und Anpassung war erfolgreich – aber das reichte nicht aus”, schreibt die BAZ. Mit ihrer hartherzigen Flüchtlingspolitik habe die Schweiz ihre Verantwortung zweifellos schlecht wahrgenommen.

Künftige Generationen

Die Genfer Zeitung “Le Temps” richtet ihr Augenmerk auf die Verdienste einer monumentalen Arbeit zur Vergangenheitsbewältigung:”Les mérites d’un travail monumental”.

Im Rahmen des bundsrätlichen Mandats habe die Bergier-Kommission nach rein wissenschaftlichen Kriterien und absolut frei von politischem Einfluss arbeiten können. Und der Umgang mit einer derart heiklen Materie verlange Talent und Fingerspitzengefühl.

Die Historiker seien ihrer Aufgabe gerecht geworden, und zukünftige Generationen würden es zu danken wissen: “Ce n’est pas le moindre de ses mérites, et les générations suisses à venir lui en seront longtemps reconnaissantes”.

Gefühl der Erleichterung

Für die “Neue Zürcher Zeitung” dürfte die gleichzeitige Publikation des Schlussberichts und der dritten und letzten Serie von Einzelstudien wohl mancherorts mit einem Gefühl der Erleichterung zur Kenntnis genommen werden:”Endlich ist der Spuk vorbei”.

Aber, fragt die NZZ:”Wie steht’s ums Lernen? “Hier falle ein Urteil schwer. Kurzfristig gesehen habe die Historiker-Kommission das Ziel, einen nationalen Lernprozess einzuleiten, wohl verfehlt.

Bergiers Fazit zeige nicht kollektive, sondern individuelle Schuld in einer Schweiz, die zwar eine Friedensinsel war, aber nicht unberührt von Antisemitismus und anderen Zeitsrömungen, kommentiert der Berner “Bund”:

“Bergiers Schlussbericht demontiert definitiv den moralischen Sonderfall, den die offizielle Schweiz nach Kriegsende konstruiert hatte. In den Achtzigerjahren zogen ihn zuerst Journalisten und erst später Historiker auf warmen Lehrstühlen in Zweifel.”

Deren Einsichten hätten aber nur Sinn, wenn daraus Lehren gezogen würden, schreibt der “Bund” weiter: “Wenn die politischen und wirtschaftlichen Eliten in schwieriger Zeit Möglichkeiten hatten, ethisch zu handeln, gibt es in gewöhnlicher Zeit umso weniger Grund, dies nicht zu tun.”

Monika Lüthi

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