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Beim Ali Baba des Werbefilms

Jean Marie Boursicot im Filmarchiv in Pruntrut. swissinfo.ch

In Pruntrut, im Kanton Jura, archiviert der Franzose Jean Marie Boursicot rund 850'000 Werbefilme aus über einem Jahrhundert und täglich werden es mehr.

Boursicot veranstaltet in über 50 Ländern die “Nuit des Publivores”. Er hat Paris den Rücken gekehrt und ist in die Schweiz gekommen, weil die Bedingungen hier viel besser sind.

Nichts deutet in der jurassischen Kleinstadt Pruntrut (Porrentruy) darauf hin, dass am Rande des Ortes ein Weltkulturerbe angesiedelt ist. Kein Hinweisschild an der Autobahn, kein Wegweiser am Bahnhof und nicht einmal eine Fussnote im Prospekt des Verkehrsvereins.

Aus einem der gesichtslosen Büroneubauten in der Gewerbezone heraus betreibt die Jean Marie Boursicot GmbH ihre weltweit beachtete und erfolgreiche “Nuit des Publivores”.

Riesenarchiv

Doch was hat diese “Nacht der Werbefilmfresser”, wie es etwas ungelenk in Deutsch heisst, mit einem Weltkulturerbe zu tun?

In Pruntrut befindet sich der Welt grösste und wertvollste Cinemathek des Werbefilms. Jean Marie Boursicot lebt hier inmitten von 850’000 Werbefilmen aus über hundert Jahren, die von sechs Mitarbeitern gesichtet, klassifiziert, zum Teil renoviert und dann archiviert werden.

Boursicot, den eine französische Zeitschrift den Ali Baba des Werbefilms genannt hat, findet alle Werbefilme spannend und interessant. Doch für seine in 50 Ländern gezeigte Nacht der Werbefilmfreaks finden nur Filme Unterschlupf, die den anspruchsvollsten Kriterien genügen.

Nämlich etwa 400 der rund 25’000 Filme pro Jahr. Der Rest wandert direkt ins Archiv.” Doch diese 400 seien grosse Momente des Kinos. Top-Schauspieler, bestes Dekor, tolle Geschichten, tolle Gags, meint Boursicot.

Imageproblem

Trotzdem, in der Hierarchie wird der Werbefilm an hinterster Stelle in der Regel hinter dem Spielfilm, dem Dokumentarfilm, der Reportage oder dem Trickfilm eingereiht.

“Ja, aber zu unrecht”, sagt Boursicot. “Es gibt viele Werbefilme, die sind besser als abendfüllende Filme.” Die Zahl sei klein. Einige wenige.

“Wie viele andere Kino- oder TV-Filme werden jährlich gedreht? Wie viele Klassiker bleiben zurück? Ist es bei den Büchern nicht aus so?”

Der Werbefilm habe vor allem bei den “Herrschern der Cinematheken” ein schlechtes Image. “Wohl weil sie eine bezahlte Auftragsarbeit, also kommerziell sind”, sagt Boursicot.

“Aber waren nicht viele der Gemälde, die wir heute im Louvre oder anderswo bewundern, Auftragsarbeiten von Königen, Fürsten oder andern reichen Würdenträgern? Damit verdienten die Maler ihr Geld und heute staunen wir über die Mona Lisa.”

So bedauert Jean Marie Boursicot, dass es zu keiner Zusammenarbeit mit der Cinemathek der Schweiz in Lausanne gekommen ist. Die gleiche Erfahrung musste Boursicot in Belgien oder Frankreich machen.

“Ich kann das nicht verstehen.” Dabei bilde gerade der Werbeflm seine Zeit genau ab. “Die Stellung der Frau, des Mannes, die Mode, die Sprache, die Musik, die Technik, die Freizeit, der Humor, Trends, etc. Zeitdokumente eben.”

Berühmte Schauspieler, wie etwa Sean Connery, oder Regisseure von Jacques Tati bis Fellini, Zeffirelli oder Ridley Scott, hätten Werbefilme gedreht. Die Filme von Spike Lee für Nike seien gar filmgeschichtlich wertvoll. Nein, Boursicot kann die Haltung all der Cinematheken-Verantwortlichen nicht verstehen.

Von Paris nach Pruntrut

So handelte Boursicot auf eigene Faust und ist heute mit seiner “Nuit des Publivores” zu einer Institution geworden.

Die erste “Nacht” fand 1980 in Paris statt und wurde von 70’000 Leuten besucht. Seither sind die Vorstellungen in rund 50 Ländern – darunter auch in Iran – eine einzige Erfolgsgeschichte. Sie spielen das Geld ein, das die Cinemathek benötigt.

“Ich habe Frankreich verlassen, weil ich unter den Bedingungen dort nicht mehr arbeiten konnte”, sagt Boursicot. Er habe seine Tätigkeit – “nicht mein Geld, ich bin nicht reich” – in die Schweiz verlegt, weil er sich hier besser weiterentwickeln könne.

“Hier hat meine Unternehmung einen finanziellen Wert, den ich versichern konnte. In Frankreich war das nicht der Fall. Doch wenn ich sterbe oder zu alt werde, dann kommt der Staat und schätzt meine Firma ein.”

Die Nachfolger müssten dann happige Erbschaftssteuern bezahlen. “Tun sie das nicht, ist mein Lebenswerk futsch. Deshalb bin ich in die Schweiz gekommen.”

Entlassen habe er niemand. “Meine Angestellten sind mitgekommen und neu sind zwei Schweizer mit an Bord.”

So archiviert Boursicot in der Schweiz die Vergangenheit und arbeitet an der Zukunft. Sein Ziel: Eine feste öffentliche Einrichtung, ein Besucherzentrum, eine Art Werbefilm-Freizeitpark.

swissinfo, Urs Maurer, Pruntrut

La Nuit des Publivores wird in rund 50 Ländern und in über 150 Städten in allen fünf Kontinenten gezeigt.
In rund sieben Stunden (mit Pausen) sind etwa 500 Werbefilme zu sehen, die Boursicot selber zusammenstellt.
In Entwicklungs- und Schwellenländern sind die Vorstellungen oft kostenlos.
In der Cinemathek in Pruntrut sind rund 850’000 Werbefilme archiviert. Davon rund 10’000 aus der Schweiz.
Ältester Film ist eine Sunlight-Seifenwerbung der Brüder Lumières von 1898.

Geboren in Marseille, liest sich seine Lebensgeschichte wie der Film “Cinema Paradiso” von Guiseppe Tornatore (1988).

Boursicot schaute als Kind dem Operateur im Kino bei der Arbeit zu. Der schenkte dem jungen Filmnarren ausgeschnaubte Werbefilme.

Der Schulweg von Boursicot führte durch das Boulevard Longchamp. Dort hatten alle Filmverleiher ihre Büros, wo er Filmschnipsel sammelte.

So geriet er Schritt für Schritt in die Welt des Werbefilmes.

Nach dem Studium arbeitete Boursicot in einer Werbeagentur und begann dort Werbefilme zu archivieren.

1978 macht er sich selbstständig und gründete eine eigene Cinemathek.

1984 erste “Nuit des Publivores” in Paris mit 70’000 Besucherinnen und Besuchern.

Seit 2006 ist die Jean Marie Boursicot GmbH in Pruntrut im Kanton Jura angesiedelt.

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