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Benedikt XVI. lässt die Reformer warten

Fehlen Papst Benedikt XVI. die Visionen? Keystone

Papst Benedikt XVI. beendet am 19. April sein erstes Amtsjahr. Ein Jahr, das mit Pomp und Feiern begann und nun ruhiger zu Ende geht.

Katholische Experten in der Schweiz erwarten für das 2. Amtsjahr mehr vom früheren Kardinal Ratzinger. Viele sind jedoch skeptisch, dass weitreichende Reformen eingeführt werden.

Über die Enttäuschung jener, die darauf gewartet hatten, dass sich nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. in der katholischen Kirche Veränderungen abzeichnen würden, wurde auch in der Schweizer Presse berichtet.

Während die Neue Zürcher Zeitung auf Benedikts vorsichtigen Start Rücksicht nahm, beschrieb Philippe Pfister in der SonntagsZeitung das Pontifikat als “Fussnote” in den Geschichtsbüchern.

Der heutige Papst kommt auch nicht so gut weg bei Vergleichen mit seinem Vorgänger Johannes Paul II, einem Mann des Volkes, der gern reiste und seine religiöse Gemeinde traf.

Benedikt wirkt weniger charismatisch und mehr akademisch. In seinem ersten Amtsjahr hat er gerade mal eine Reise ausserhalb Italiens unternommen – in seine Heimat Deutschland.

Stil und Substanz

Es ist offensichtlich, dass Benedikt XVI. einen ganz anderen Stil pflegt als Johannes Paul II. Doch Beobachter des Vatikans stimmen überein, dass er der theologischen Linie seines Vorgängers und engen Freundes folgt – zur Enttäuschung gewisser Kreise innerhalb der Kirche.

“Die meisten Katholiken hier in Westeuropa hatten wahrscheinlich auf Reformen gehofft. Zum Beispiel auf die Abschaffung der Ehelosigkeit für Priester oder der Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zu den Heiligen Sakramenten. In diesen Aspekten hat Benedikt zweifellos enttäuscht”, gesteht Josef Bossart, Chef der Katholischen Internationalen Presseagentur in Freiburg, ein.

Die Schweizer Theologin Eva Südbeck-Baur, die in Basel eine offene Kirche führt, sagt gegenüber swissinfo, der Papst, der die Liebe zum Motto seiner ersten Enzyklika wählte, habe diese nur in einer philosophischen Art behandelt.

“Die wichtigsten Menschenrechtsfragen in der katholischen Kirche, etwa dass Männer und Frauen zum Priester geweiht werden oder die Nicht-Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Paaren, warten noch auf ihre Beantwortung”, so Südbeck-Baur.

Jean Francois Mayer, Religionswissenschafter an der Universität Freiburg meint dagegen, Erwartungen dass sich ein Erzkonservativer ändere, seien fehl am Platz. “Er hatte nicht im Sinn, weibliche Priesterinnen zu befürworten oder eine liberalere Politik gegenüber Homosexuellen einzuschlagen”, sagt er gegenüber swissinfo.

Es braucht seine Zeit

Der britische Religionsbeobachter Felix Corley ist der Ansicht, die relativ geringe Performance in Benedikts ersten Amtsjahr dürfe nicht als Zeichen von Handlungsunfähigkeit gedeutet werden.

“Ich denke, er nimmt sich Zeit herauszufinden, welche Inhalte er besetzen will”, so Corley.

Und es gebe Zeichen dafür, wo Benedikt Prioritäten setze, sagt er weiter. Beziehungen zum Islam und die Annäherung an eine erzkonservative in Schweiz basierte Glaubensgemeinschaft waren zwei Hauptthemen an einem Treffen des Papstes mit seinen Kardinälen.

Die Versöhnungszeichen in Richtung der Priesterbruderschaft des Heiligen Pius X. von Erzbischof Lefebvre überraschte viele Vatikan-Beobachter ebenso wie das Treffen des Papstes mit dem dissidenten Schweizer Theologen Hans Küng, einem der schärfsten Kritiker des Heiligen Stuhls.

Benedikts Wunsch, die Kirche zu vereinen, komme auch in seiner Annäherung zu den orthodoxen Kirchen zum Ausdruck, so Mayer. Den Graben zu den orthodoxen Kirchen zuzuschütten sei eines der Hauptziele des Pontifikats von Benedikt, meinte er gegenüber swissinfo.

Beobachter stimmen darin überein, dass der Papst die Notwendigkeit erkannt hat, sich mit den Herausforderungen des Islam zu beschäftigen, obgleich ihn der interreligiöse Dialog weniger interessiere als der Dialog zwischen den christlichen Kirchen.

“Wie viele in den christlichen Kirchen, ist er von der Energie des militanten Islam erschrocken und will energischer auf die Rechte der in muslimischen Ländern lebenden Christen pochen”, fügt Corley bei. “Und das ist ein neuer Anfang.”

swissinfo, Morven McLean
(Übertragung aus dem Englischen: Etienne Strebel)

Am 19. April 2005 wurde Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst gewählt.

Er nahm bei seiner Inauguration am 24. April den Namen Benedikt XVI. an.

Benedikt hat bislang zwei Reisen ausserhalb des Vatikan gemacht: im August zum katholischen Jugendtag in Deutschland und im Mai eine pastorale Visite nach Bari in Italien.

Papst Benedikt XVI. hat Schritte zur Normalisierung der Beziehungen mit der Schweizer Priesterbruderschaft des Heiligen Pius X. unternommen. Diese war aus Protest gegen die liberalen Reformen des 2. Vatikanischen Konzils 1969 entstanden.

Ihr Gründer, Erzbischof Marcel Lefebvre, wurde 1988 exkommuniziert, nachdem er vier Bischöfe ohne Roms Zustimmung geweiht hatte.

Der Papst hat auch die Kommunikation zu einem der bekanntesten Vatikankritiker in Gang gesetzt, zum liberalen Theologen Hans Küng.

Beobachter sehen in diesen Handlungen einen Versuch, unterschiedliche Richtungen in der katholischen Kirche miteinander zu versöhnen.

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