Aus Untertanen werden Modernisierer

Die Mediations-Verfassung von 1803 hebt sechs neue Kantone aus der Taufe, darunter fünf aus ehemaligen Untertanen-Gebieten.
Ausgerechnet diese mauserten sich in der Folge zu Geburtshelfern der modernen Schweiz, wie das Beispiel Thurgau zeigt.
Als die Eidgenossen 1460 den Habsburgern den Thurgau abjagten, änderte sich für die ansässige Bevölkerung wenig: Sie blieben Untertanen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass nun nicht mehr Habsburger, sondern Eidgenossen die Obrigkeit bildeten.
Von den Freiheiten, welche sich die Eroberer auf die Fahne schrieben, merkte man im Thurgau nichts. Die Eidgenossen verwalteten das südlich des Bodensees gelegene Gebiet als so genannte «gemeine Herrschaft», als Gebiet von rechtlosen Untertanen. Und dabei blieb es während Jahrhunderten.
Die Befreiung
Dieser unwürdige Zustand änderte sich erst 1798 mit dem Einmarsch französischer Truppen. Der Thurgau wurde aus der Untertanenschaft entlassen und Teil der «Einen und Unteilbaren Helvetischen Republik».
1803 diktierte Napoleon I. die so genannte Mediations-Verfassung: Das Land mutierte zum lockeren Staatenbund von 19 souveränen Kantonen. Neben den alten Landsgemeinde- und Städtekantonen garantierte Napoleon die Existenz von sechs neuen Kantonen: Graubünden (ehemals zugewandter Ort) und die fünf früheren Untertanen-Gebiete Aargau, St. Gallen, Tessin, Waadt und Thurgau.
Enklaven der helvetischen Fortschrittlichkeit
Obwohl die Mediations-Verfassung eine Teilrestaurierung des Ancien Régime mit sich brachte, war insbesondere in den ehemaligen Untertanen-Gebieten an eine Rückkehr zu den Verhältnissen von damals nicht mehr zu denken. Dies änderte sich auch nach Napoleons Sturz 1814 nicht, als man in ganz Europa die vorrevolutionären Zustände wiederherstellte.
«Die untergegangene Helvetische Republik lebte weiter in den … ’neuen Kantonen› von 1803», schreibt der Berner Historiker Ulrich Im Hof in seinem Standardwerk «Geschichte der Schweiz».
Der Kanton Thurgau bildete eine dieser Enklaven des helvetischen Fortschrittgeistes in der wieder konservativ gewordenen Eidgenossenschaft. So führte der Thurgau in Anlehnung an die Ideen der Helvetik nach 1803 beispielsweise die in ihren Grundzügen bis heute bestehende Gewaltentrennung (Legislative, Exekutive, Judikative) ein, während die Landsgemeinde- und Städtekantone weitgehend zu ihren Oligarchien, Patriziaten und Zunft-Regimenten zurückkehrten.
Baumeister des Bundesstaates
Der Thurgau habe zusammen «mit den Kantonen Aargau, St. Gallen, Tessin und Waadt schon bald einmal zu den am modernsten organisierten Kantonen der Schweiz» gehört, schreibt der Thurgauer Staatsarchivar André Salathé in seiner Schrift «Die ‹kleine Helvetik'».
Es sei deshalb auch nicht erstaunlich, dass es eben diese Kantone waren, die im Zuge des liberalen Umschwungs in Frankreich von 1830 am schnellsten «wieder an die Mediation und die Helvetik anknüpften und in der Folge zielstrebig auf einen schweizerischen Bundesstaat hinarbeiteten».
Henri Druey aus der Waadt und der Thurgauer Johann Konrad Kern spielten denn auch eine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung der Bundesverfassung von 1848. Im ersten Bundesrat stammten nicht weniger als vier Magistraten aus ehemaligen Untertanen-Gebieten: Neben dem Waadtländer Druey zogen Friedrich Frey-Hérosé (AG), Wilhelm Matthias Naef (SG) und Stefano Franscini (TI) in die Landesregierung ein. Der Thurgauer Kern wurde erster Präsident des Bundesgerichts.
Im Hintertreffen
Der Thurgau gehörte bis ins späte 19. Jahrhundert zu den modernsten und fortschrittlichsten Kantonen der Schweiz. Mit der Industrialisierung geriet er jedoch allmählich ins Hintertreffen: Sie erfasste den Thurgau weit weniger als andere Gegenden der Schweiz, und der Kanton blieb – bis heute – stark ländlich geprägt.
Heute sei der Thurgau ein «eher beschaulicher», wenn auch kein «rückständiger» Kanton, urteilt Staatsarchivar Salathé. Ein wesentlich härteres Verdikt fällt der Historiker Markus Schär, Verfasser des vor kurzem erschienenen Buches «O Thurgau – ein Kantonsführer für Fortgeschrittene»: «Der Thurgau ist heute ein reaktionärer Kanton», sagt Schär gegenüber swissinfo.
Vom einstigen helvetischen Pioniergeist ist gemäss Schär nichts mehr zu spüren. Die Thurgauer seien «bieder, brav und bescheiden», «verdruckst und verhockt» – und der fortschrittliche Eifer von damals sei einer neuen «Untertanen-Mentalität» gewichen.
swissinfo, Felix Münger
1803 entstanden fünf neue Kantone aus ehemaligen Untertanen-Gebieten.
Der Thurgau, Aargau, St. Gallen, Tessin und Waadt bildeten während der Restauration Enklaven der helvetischen Fortschrittlichkeit.
Sie «regenerierten» sich nach 1830 am schnellsten und spielten bei der Gründung des Bundesstaats 1848 eine entscheidende Rolle.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch