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“Diese Wahl stellt Weichen für die Zukunft”

Dem Schweizer Ökonomen Thomas Straubhaar gefällt die Dynamik in der deutschen Politik. (HWWI)

Die grosse Koalition habe zu wenig für die Modernisierung Deutschlands getan, kritisiert der Ökonom Thomas Straubhaar. Lobende Worte findet der Schweizer Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) für den Politikstil der Bundeskanzlerin.

swissinfo.ch: In wenigen Wochen wird in Deutschland gewählt. Haben Sie sich heute schon bei twitter.com über den aktuellen Trend informiert?

Thomas Straubhaar: Ehrlich gesagt bin ich diesbezüglich ein ziemlich altmodischer Mensch. Über Politik informiere ich mich lieber über die tägliche Zeitungslektüre als beim Surfen im Internet.

Aber natürlich verfolge ich den Wahlkampf intensiv mit – das TV-Duell zwischen Angela Merkel und ihrem Herausforderer Frank-Walter Steinmeier werde ich auf keinen Fall verpassen. Mit dieser Wahl werden wichtige Weichen für die Zukunft gestellt.

swissinfo.ch: Wie meinen Sie das?

T.S.: Die nächste Bundesregierung steht vor grossen Herausforderungen. So wird das Nachbeben der Finanzmarktkrise die politische Agenda noch einige Zeit bestimmen.

Die neue Regierung muss sich um immer mehr Arbeitlose kümmern, den hoch verschuldeten Haushalt sanieren und auch durchsetzen, dass die neuen und härteren Regeln für Banken und Hedgefonds greifen.

Eine weitere Baustelle betrifft die Aussenpolitik. So erwarten die Bürger endlich eine Lösung im Afghanistan-Konflikt.

swissinfo.ch: Sie haben einmal gesagt, dass mit einer grossen Koalition bestenfalls eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners zu erwarten ist. Ist dieses Szenario eingetroffen?

T.S.: Ja, da fühle ich mich bestätigt. Deutschland hat sich unter Schwarz-Rot nur wenig modernisiert. So wurde zwar das Notwendige getan, um grosse Reformen aber hat man sich gedrückt – man denke nur an die seit langem geforderte und notwendige Steuerreform.

Auch die nach zähem Ringen ausgehandelte Gesundheitsreform ist letztlich nicht viel mehr als ein fauler Kompromiss. Sie hat statt zu mehr Effizienz vor allem zu mehr Kosten geführt; wichtige Teile wie die Reform der Pflegeversicherungen wurden zudem weggelassen.

Bei der Arbeitsmarktpolitik hat die grosse Koalition sogar erfolgreiche Reformen von der Agenda 2010 zurückgeschraubt. So hat die Regierung jüngst eine verlängerte Zahlung des Arbeitslosengeldes beschlossen, obwohl die verkürzte Bezugsdauer einen positiven Effekt auf die Beschäftigungsquote zeigte, was vor allem auch für die über 55-Jährigen wichtig wäre.

swissinfo.ch: Die beiden Volksparteien können also nicht gemeinsam regieren?

T.S.: Es gab eine Situation, wo die Bundesregierung in meinen Augen sehr gut und auch schnell reagiert hat.

Als die Finanzmarktkrise im September 2008 Europa erreichte, verkündeten die Kanzlerin und der Finanzminister, dass die Spareinlagen der Deutschen unter allen Umständen gesichert seien. Das entschlossene Auftreten von Angela Merkel und Peer Steinbrück verhinderte einen Bank-Run – also, dass zu viele Anleger gleichzeitig ihre Einlagen abheben wollen.

Wie Analysen der deutschen Bundesbank zeigten, wäre die Notenversorgung Deutschlands bei einem Bank-Run kollabiert.

swissinfo.ch: Stichwort Angela Merkel. Hat sich die Politik in Deutschland unter der ersten Kanzlerin des Landes verändert?

T.S.: Ja, absolut – und zwar in einem positiven Sinn. Frau Merkel hat viel Ruhe und Sachlichkeit in die Politik gebracht.

swissinfo.ch: Böse Zungen vergleichen ihren Politikstil mit einer Schlaftablette.

T.S.: Diesen Vorwurf kann ich zwar verstehen. Aber es ist Frau Merkel hoch anzurechnen, dass im Kabinett eine Art Burgfrieden herrschte, trotz den inhaltlichen Differenzen zwischen Union und SPD.

Die Kanzlerin tritt sehr geschickt als Moderatorin auf, welche die Sache in den Vordergrund stellt und nicht ihre Person.

Das war unter Rot-Grün anders. Sowohl Bundeskanzler Gerhard Schröder als auch Aussenminister Joschka Fischer waren Alphatiere, die sich gern in Machtkämpfe verstrickten und mit ihrem dominanten Charakter die gesamte Regierung prägten.

swissinfo.ch: Was halten Sie von Merkels Herausforderer, dem SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier?

T.S.: Auch er ist zum Glück ein Politiker, der mehr über den Kopf funktioniert als aus dem Bauch heraus. Herr Steinmeier ist sachlich, nüchtern und faktenorientiert.

Nicht zuletzt hat das ja auch – zumindest bis jetzt – zu einem ruhigen Wahlkampf der beiden Spitzenkandidaten geführt, weit weg von einem personenbezogenen Schlagabtausch.

swissinfo.ch: Was schätzen Sie, welche Partei macht am 27. September das Rennen?

T.S.: Angela Merkel hat die allerbesten Chancen für eine weitere Amtszeit. Die CDU-Vorsitzende steht noch besser da als vor 4 Jahren, so dass sie auf der Zielgeraden nahezu nicht mehr einzuholen ist.

Die SPD zumindest ist dafür zu schwach. Wenn die Sozialdemokraten ähnlich schlecht abschneiden wie bei der Europawahl im Juni, dann wackelt gar ihre Rolle als Juniorpartner im Kabinett, und es kommt womöglich zu einer dreifarbigen Koalition.

swissinfo.ch: Sie leben schon über 18 Jahre in Deutschland. Gibt es etwas, was Sie an der deutschen Politik besonders schätzen?

T.S.: Die Dynamik in der deutschen Politik gefällt mir ausserordentlich. Die Politiker sind tatenorientiert.

Dadurch, dass alle vier Jahre ein neuer Bundestag gewählt wird, sind in Deutschland grössere Richtungswechsel möglich als in der Schweiz, und es werden auch weniger Kompromisse geschlossen. Das macht die deutsche Politik sehr viel spannungsreicher.

Paola Carega, Berlin, swissinfo.ch

Der Schweizer Ökonom Thomas Straubhaar gehört zu den profiliertesten Wirtschaftsexperten Deutschlands.

Er ist seit zehn Jahren Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg.

Seit 2005 leitet der 52-Jährige auch das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI).

Die Institution war bis vor knapp drei Jahren eines der fünf beratenden Wirtschaftsinstitute der Bundesregierung. Heute versteht sich das HWWI als privater Think Tank.

Thomas Straubhaar ist Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, eine von Wirtschaftsverbänden gegründete Organisation mit dem Ziel, die deutsche Öffentlichkeit von marktwirtschaftlichen Reformen zu überzeugen.

Der Wirtschaftsforscher und Vater von drei Kindern ist zudem bekannt dafür, dass er sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen statt der heutigen Sozialsysteme stark macht.

Dieses Bürgergeld hat sowohl in linksalternativen als auch in liberalen Kreisen Befürworter und sieht vor, dass der Staat allen seinen Bürgern jeden Alters ein Grundeinkommen zahlt, welches das Existenzminimum absichert.

Dafür werden Sozialleistungen wie Rente, Arbeitslosen– oder Pflegegeld, abgeschafft. Lediglich eine verpflichtende Krankenversicherung will Straubhaar erhalten. Die Löhne werden, anders als heute, frei verhandelbar.

Am 27. September sind 62 Millionen Deutsche im In- und Ausland aufgerufen, die Abgeordneten des 17. Deutschen Bundestags zu wählen.

Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier werden dann den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin bestimmen.

Im Parlament sind 598 Sitze zu vergeben. Bundestagswahlen finden alle vier Jahre statt.

Zur Zeit sind im Bundestag sechs Parteien vertreten: CDU, CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen sowie Die Linke.

Am Wahltag stehen 80’000 Wahllokale in 299 Wahlkreisen zur Verfügung.

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