Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Griechen-Referendum: Ruck für “konfuse Europäer”

Laut Charles Wyplosz wird es für Europa diese Woche Schelte von anderen G-20-Ländern absetzen. AFP

Frankreich ist diese Woche in Cannes Gastgeber des G-20-Gipfels. Dieser wird überschattet von der Ankündigung Griechenlands, ein Referendum über das mit drastischen Sparmassnahmen verbundene Rettungspaket der EU durchzuführen.

Charles Wyplosz, Wirtschaftsprofessor am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung, begrüsst das griechische Referendum im Gespräch mit swissinfo.ch.

Er hoffe, die Abstimmung werde die “konfusen” Europäer aufrütteln. Das Rettungspaket auferlege Griechenland “eine nutzlose Sparpolitik”, das Referendum sei eine willkommene Chance, ein demokratisches Element in den Prozess einzubringen, erklärt Wyplosz.

Am Montag hatte der griechische Regierungschef Giorgos Papandreou überraschend ein Referendum über das Rettungspaket angekündigt. Zudem will Papandreou diese Woche im Parlament die Vertrauensfrage stellen. Seine reguläre Amtszeit läuft 2013 ab.

swissinfo.ch: Was kann man vom G-20-Gipfel erwarten?

Charles Wyplosz: Wie meist nicht viel. Das Treffen dürfte teilweise von der Debatte über die Euro-Krise überschattet werden, aber der Gipfel kann nicht viel tun.

Gut möglich, dass wir eine Fortsetzung der jüngsten Eurozonen-Treffen sehen werden, während der Rest der Welt beklagen wird, die Europäer vermasselten die Dinge nur, statt sich der Krise anzunehmen.

Für den Gipfel wurden zahlreiche Dossiers vorbereitet, zu Themen wie Finanztransaktions-Steuer oder Regulierungs-Mechanismen, doch dürften diese Fragen in den Hintergrund treten. Wie jedes Jahr dürfte über Währungen und Stimmrechte im Internationalen Währungsfonds debattiert werden.

Die USA und Europa scheinen vor einer Rezession zu stehen, doch Präsident Obama ist es nicht gelungen, sein Arbeitsmarkt-Programm durch den Kongress zu bringen, seine Hände sind gebunden. Und die Europäer sind sich überhaupt nicht im Klaren, was getan werden sollte. Ich erwarte nicht, dass dieser Gipfel von mutigen Entscheiden geprägt sein wird.

Ich denke, die Bedeutung der G-20 wird stark übertrieben. Sie ist kein Platz für Verhandlungen und Entscheide. Die G-20 ist zu gross, zu unterschiedlich.

Die G-20 ist sicher nützlich – ich habe nichts dagegen, dass Leute miteinander sprechen, sich mit unterschiedlichen Ideen konfrontiert sehen. Aber jedes Mal wachsen die Erwartungen dramatisch – und dann folgt die riesige Enttäuschung.

swissinfo.ch: Was ist Ihre Reaktion auf die griechische Ankündigung, das jüngste Rettungspaket einem Referendum zu unterstellen?

C.W.: Ich bin begeistert von diesem Referendum. Die Europäer sind konfus, verwirrt und auf dem falschen Weg. Sie müssen richtig aufgerüttelt werden, damit sie einen Neuanfang machen, eine neue Basis finden können.

Ich bin sehr geschockt über die nutzlosen Sparmassnahmen, die man den Griechen auferlegt hat. Die Lage in Griechenland wird von Tag zu Tag schlimmer – und sie können ihr Budgetdefizit nicht verringern, während die Wirtschaft dermassen schrumpft.

Die Entscheide fielen auf sehr undemokratische Weise und wurden der griechischen Regierung auferlegt – und deren Souveränität verletzt. Das Referendum ist eine Gelegenheit, ein Element von Demokratie in einen Prozess einzubringen, der aussergewöhnlich technokratisch war.

Es ist auch eine wichtige Erinnerung für die politischen Führungskräfte, dass sie mit solchen Sparprogrammen mitten in einer Rezession grosses Leid verursachen. Dieser Sparkurs ist zum Scheitern verurteilt, das ist offensichtlich, bereits jetzt.

swissinfo.ch: Das europäische Rettungspaket dürfte von anderen G-20-Mitgliedern wie den USA, China und Indien kritisch hinterfragt werden. Welche Reaktionen erwarten Sie?

C.W.: Die Europäer haben China und Brasilien umworben und auch einige andere, um an Geld zu kommen, das ist lächerlich. Sie haben die nötigen Ressourcen, die es braucht, um ihre Probleme zu lösen.

Aber sie sind einfach zu verwirrt und zu uneinig. Ich bin sicher, dass andere etwas Geld geben werden, mehr als symbolische Geste, und um bei den Europäern ein bisschen an Einfluss zu gewinnen.

Ich hoffe sehr, dass einige der G-20-Staaten deutliche Worte finden werden, um den Europäern klar zu machen, dass sie die Dinge nicht weiter so vermasseln können. Seit zwei Jahren haben sie jetzt jedes Mal den falschen Weg eingeschlagen.

swissinfo.ch: Die Schweiz hat die Wirtschaftskrise 2007-2008 im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn gut überstanden. Trotz den Bemühungen, den starken Schweizer Franken zu kontrollieren, kündigten Schweizer Firmen wie Credit Suisse, Novartis, Schindler und Kudelski jüngst den Abbau von Stellen und Standortverlagerungen an. Wie sehen Sie die Entwicklung weiter?

C.W.: Die Schweiz ist stark in Europa integriert. Wenn es in Europa Probleme gibt, wird das in gewisser Weise auch die Schweiz spüren.

Der Export ist betroffen, gewisse Unternehmen könnten sich für einen Standortwechsel entscheiden. Die Schweiz kann nicht erwarten, dass sie nichts spüren wird, wenn Europa rund um sie herum einbricht.

swissinfo.ch: Gewisse Interessengruppen erklären, dass die Schweizerische Nationalbank (SNB) den von ihr garantierten Mindestkurs von 1,20 Franken pro Euro erhöhen sollte, um Arbeitsplätze zu sichern. Ist das realistisch?

C.W.: Industrielle kämpfen natürlich für ihre eigenen Interessen. Und diese sind nicht notgedrungen jene der übrigen Bevölkerung.

Die SNB ist eine kühne Wette eingegangen, bisher funktioniert es. Doch falls sich die Lage in Europa weiter verschlechtern sollte und es zu einer ausgewachsenen Bankenkrise kommt, eine wahrscheinliche Möglichkeit – dann wird der Druck auf den Schweizer Franken erneut steigen.

Und offensichtlich, je höher das Niveau, desto schwieriger und anspruchsvoller wird die Herausforderung für die SNB, an ihrem Vorsatz festzuhalten. Ob die Grenze bei 1,20 oder 1,30 Franken pro Euro liegt, wird das Leben der SNB nicht gross verändern, das Ganze wird einfach noch riskanter.

Charles Wyplosz, geboren 1947, Professor für internationale Wirtschaftswissenschaften ist heute der Direktor des Internationalen Zentrums für Geld- und Bankwissenschaften am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung (IHEID) in Genf.

Davor war er stellvertretender Dekan für Forschung und Entwicklung an der internationalen Business-Schule INSEAD und Direktor des Wirtschaftsprogramms der Ecole des Hautes Etudes en Science Sociales in Paris.

Nach Studien in Paris als Ingenieur und Statistiker hatte er seinen Doktor als Wirtschaftswissenschafter an der Harvard Universität in den USA gemacht.

Wyplosz ist auch als Berater für verschiedene Funktionäre und Organisationen tätig: Dazu gehören EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, das EU-Parlament, IWF, Vereinte Nationen, Asiatische Entwicklungsbank, Frankreichs Finanzministerium und die Regierung der Russischen Föderation.

Der Euro-Gipfel hat am 26. Oktober ein Paket von Massnahmen gegen die Schulden- und Bankenkrise beschlossen. Im Zentrum der Bemühungen stand Griechenland, doch die Massnahmen richten sich auch an andere angeschlagene Länder.

Die öffentlichen Schulden Griechenlands sollen von derzeit 160% des Brutto-Inlandprodukts bis 2020 auf 120% reduziert werden.

Private Gläubiger, Banken und Versicherungen, die Griechenland mit Krediten versorgt haben, müssen die Hälfte ihrer Forderungen ans Bein streichen und auf rund 100 Mrd. Euro verzichten.

Gegen weitere Notsituationen müssen sich die privaten Institute künftig mit einer Eigenkapitalquote von 9 statt wie bisher 4% absichern. Die Euro-Staaten sichern diese Beteiligung des privaten Sektors mit 30 Mrd. Euro ab.

Das Rettungspaket sieht zudem vor, dass die Euro-Staaten und der Internationale Währungsfonds (IWF) Griechenland bis ins Jahr 2014 mit weiteren 100 Mrd. Euro unterstützen.

Zudem sollen die Kapazitäten des EU-Rettungsfonds (Europäische Finanzstabilitäts-Fazilität, EFSF) dank einer Hebelung auf rund eine Billion (1000 Mrd. Euro) aufgestockt werden.

Gegenwärtig kann die EFSF Kredite in Höhe von insgesamt 440 Mrd. Euro vergeben. Nach den Hilfen an Griechenland, Irland und Portugal würden in dem Fonds aktuell noch etwa 250 Mrd. Euro verbleiben.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft