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Das Jahrhundert des Bildes – das Drama als Bild

Wie hat die Photographie das Jahrhundert wiedergegeben? Mit welchen Werkzeugen, welchen Tricks? Das erste der zwölf vom Musée de l'Elysée in Lausanne ausgewählten Bilder: "Spital El Arrach, Algier, 23. September 1997", von Hocine.

Am 31. August 1997 entriss der Tod die Prinzessin von Wales, Lady Di, ihren Fans. In den darauf folgenden Tagen und Wochen wurden die Paparazzi und ganz allgemein die Photographen mit Beschimpfungen überhäuft, und zwar ausgerechnet von jenen, die sich im Allgemeinen auf deren Bilder stürzen. Voyeurs! Aasgeier! Mörder!

Es waren aber auch vernünftigere Stimmen zu hören: rechtfertigt der Tod einer Prinzessin ein solches Geschrei, wenn anderswo gleichzeitig Menschen sterben und sich niemand einen Deut darum kümmert?

Am 23. September des gleichen Jahres war Hocine, seit 1993 Photograph der Agence France Presse, in Algerien – seiner Heimat.

Das Bild, das er am 23. September 1997 beim Spital von El Arrach unweit von Algiers aufnahm, ging um die Welt. Und während wir uns an die Ermordeten und die blutverschmierten Mauern des schrecklichen algerischen Alltags gewöhnt hatten, sie vielleicht schon etwas satt hatten, vermochte dieses Bild wieder aufzuwühlen. “Eine Madonna in der Hölle”, titelte Le Monde. Und die tränenüberströmte Frau in der Bildmitte wurde zur “Madonna”.

Ein biblisches Bild, hiess es. Ah ja? Und wen stellte es dar? Maria? Maria Magdalena? Das Licht, das die Frau umgibt, der Faltenwurf des Tuchs, die blaue Farbe – wir sehen darin ein Abbild der Wirklichkeit.

Diese Reduzierung auf die Bibel erklärt vielleicht den Erfolg dieser Photographie. Sie ist eine Art Beifall. Etwas schnell wurde vergessen, dass es sich um eine Muslimin handelte, welche um Muslime weinte, die von anderen Muslimen massakriert worden waren. Weckt man im Westen eher Gefühle, wenn die furchtbare Realität die eigene Gedankenwelt widerspiegelt?

Für dieses Bild wurde Hocine 1997 mit dem Preis “World Press Photo” ausgezeichnet.

Bernard Léchot

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