Das Jahrhundert des Bildes – Modernismus und Doktrin
Wie hat die Photographie das Jahrhundert wiedergegeben? Mit welchen Werkzeugen, welchen Tricks? Das zehnte der zwölf vom Musée de l'Elysée in Lausanne ausgewählten Bilder: "Mädchen mit einer Leica" (1934) von Alexander Rodtchenko.
Ein schräg gehaltener Photoapparat. Die Bank in der Diagonale. Schatten fallen in Gitterlinien über den Boden, die Mauer und die junge Frau, über deren Körper, ebenfalls diagonal, ein Riemen läuft, an dem … nicht eine Leica, sondern eine kleine Tasche hängt.
Auf diesem Bild besteht alles nur aus Geraden und Winkeln, ausser der Frau in Weiss, deren Schönheit in weichen Linien wiedergegeben ist. Alexander Rodtchenko war Maler, bevor er Photograph wurde, “einer der Theoretiker der sowjetischen Avantgarde der 20er-Jahre”, erklärt Daniel Girardin, der Konservator des Musée de l’Elysée. Er war ein Meister des Konstruktivismus.
Doch dann gab er die Malerei zugunsten der Photographie auf, die im ersten Viertel des Jahrhunderts den Freigeistern als wunderbare neue Kunst erschien. Rodtchenko war der Ansicht, dass mit der politischen Revolution die künstlerische Revolution einhergehen muss. Bei ihm ist die sowjetische Revolution total.
Doch 1934 war ein schwieriges Jahr für Rodtchenko. Seine Liaison mit dem hübschen Mädchen mit der Leica, einer seiner Schülerinnen, bricht auseinander. Diese Photo ist ein Zeugnis ihrer letzten gemeinsamen Reise.
1934 war auch das Jahr, in dem die kommunistische Partei den Experimenten der Avantgarde ein Ende setzte. “Die Partei ersetzt die Utopie der Künstler durch eine andere Utopie: den sozialistischen Realismus”, erinnert Daniel Girardin. Danach galt die Photographie nicht mehr wie im vorangegangenen Jahrzehnt als der beste Vermittler. Trotzdem arbeitete Rodtchenko weiter für die Regierung, namentlich im Rahmen einer für das Ausland bestimmten Propagandazeitung. Eine wahrhaft schwierige Stellung.
Das Mädchen mit der Leica jedoch lässt sich von der Doktrin nicht beeindrucken, nicht von der künstlerischen und nicht von der politischen Doktrin. Sie stellt noch heute Eleganz zur Schau und macht uns glauben, dass sie auf uns wartet, träumerisch und zu allem bereit.
Bernard Léchot
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