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500 Jahre Graubünden: “Man hat Demokratie benutzt, um Macht über Andere auszuüben”

Frühneuzeitliche Darstellung von Graubünden, eine Karte, ein Kupferstich.
Kupferstich "Alpinae seu Foederatae Rhaetiae subditarumque ei Terrarum nova descriptio" (Lateinisch für: Neue Beschreibung des alpinen oder bündnerischen Rätien und seiner Untertanenlande), von Fortunat Sprecher von Bernegg und Philipp Clüver. Erste Ausgabe von 1618, Nachdruck in Amsterdam 1633. Rätisches Museum, Chur, H1983.319

Der Schweizer Kanton Graubünden feiert dieses Jahr grosses Jubiläum. Seine frühe Demokratiegeschichte erstmals aufgearbeitet hat der Historiker Randolph Head. Im Interview erzählt der Professor in Kalifornien, wie eine Demokratie ohne Gleichheitsgedanken funktionierte.

Randolph Head ist Professor für Europäische Geschichte an der University of California, Riverside. Die Schweizer Geschichte ist eines seiner Schwerpunktthemen.

In seiner Dissertation schrieb er die erste moderne Geschichte der frühneuzeitlichen Demokratie Graubündens bis ins 17. Jahrhundert. Unter anderem, weil seine Professoren der Meinung waren, er sei zu alt, um noch Chinesisch zu lernen.

Professor Randolph Head blickt in die Kamera.
Der Historiker Randolph Head ist Professor an der University of California, Riverside. Er erforschte für seine Dissertation “Early Modern Democracy in the Grisons” die Demokratiegeschichte Graubündens in der Frühen Neuzeit. zur Verfügung gestellt

SWI swissinfo.ch: Graubünden feiert dieses Jahr 500-jähriges Jubiläum. Woran sollten sich die Bündner:innen dabei vor allem erinnern?

Randolph Head: In unserer heutigen Welt der Staaten feiert man die Ursprünge der Staaten. Als einheitliches Gebilde, als Republik der drei Bünde, kann man Graubünden ab 1524 datieren. Auch davor gab in der Gegend es viele Verträge und einen Haufen verschiedener Bündnisse, aber nichts Einheitliches.

Die Bündner haben die Vereinheitlichung ihrer Verträge früh geschafft. Die Schweizer warteten bis ins 19. Jahrhundert, als Graubünden Teil der Schweiz geworden ist. Das Bündnis hat die Reformationszeit und die Wirren des 17. Jahrhunderts überstanden – wenn auch knapp. Das ist schon besonders.

SWI: Etwas erstaunt war ich schon, als ich in der Recherche bemerkte, dass ein Professor aus Kalifornien die erste moderne Geschichte der Bündner Demokratie geschrieben hat.

RH: Ich kannte Graubünden von den Sommern bei meiner Grossmutter als Kind im St. Galler Bad Ragaz. Von dort aus sah es immer dramatisch aus, wenn man in die Berge hochgeschaut hat, und mich faszinierten auch die Bündner Dörfer mit komischen Namen wie Trins und Truns.

Doch als ich mit 28 Geschichte studieren wollte, interessierte ich mich eigentlich für die Geschichte Chinas. Aber meine Professoren meinten, ich sei zu alt, um noch Chinesisch zu lernen. Na gut, habe ich mir gesagt: Meine Mutter ist Schweizerin, und ich kann Deutsch.

Später suchte ich mal in der Houghton Bibliothek in Cambridge, Massachusetts nach Kantonsnamen: Aargau, Zürich und so weiter. Bei Graubünden stiess ich dann auf eine Propagandaflugschrift von 1618, mit welcher einige Geistliche das Strafgericht von Thusis rechtfertigten. Dies war eines von vielen tumultartigen Bündner Strafgerichten in den konfessionellen und von den grossen Mächten angetriebenen Konflikte in Graubünden zu Beginn des 30-jährigen Kriegs.

Im ersten Abschnitt des Flugblatts stand: “Die Form unseres Regiments”, also die Regierungsform, “ist demokratisch.”

SWI: Das ist sehr deutliches Vokabular.

RH: Und sehr unerwartet im Jahr 1618! In etwa so, wie wenn man in Washington 1955 geschrieben hätte, die Form unseres Regiments ist kommunistisch. “Demokratisch” war ein Schimpfwort. Wenn jemand die Feinde eines Herrschers verleumden wollte, nannte er sie Demokraten.

In England gab es eine ganze Gattung von Büchern, die gegen angebliche “Demokraten” schimpfte. Zuvorderst die Presbyterianer, die in der Kirche Selbstbestimmung forderten, aber auch die Jesuiten nannte man demokratisch.

Die aristokratischen Engländer betrachteten auch die Schweizer als Demokraten: Dort in der Schweiz sah man den Krebs, sagten sie, den Selbstbestimmung bedeuten würde.

Graubünden ist der flächenmässig grösste Kanton und liegt im Südosten der Schweiz. Als einziger Kanton ist Graubünden dreisprachig: Im Kantonsgebiet wird Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch gesprochen. 1524 wurde die Republik der Drei Bünde – Gotteshausbund, Zehngerichtebund und Grauer Bund – begründet. Die Drei Bünde waren als “Zugewandter Ort” mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft verbündet. Erst 1803 wurde Graubünden zu einem Schweizer Kanton.

SWI: Was macht aus heutiger Sicht denn eigentlich Demokratie aus?

RH: Gerade in letzter Zeit überlege ich mir das oft. Viel mehr als damals, wo ich zu Graubünden forschte, gibt es heute durchaus antidemokratische Auffassungen in der Politik.

Meine erste Erkenntnis damals war, dass Demokratie in verschiedene Gesellschaften ganz andere Systeme und Verhältnisse umfassen kann. Graubünden war damals eine frühneuzeitliche Demokratie, keine moderne Demokratie.

Die heutige Demokratie beruht, zumindest in der Theorie, auf den universellen Menschenrechten. Doch den Ausdruck “All men are created equal” aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung gab es in der frühen Neuzeit noch nicht.

In der frühneuzeitlichen Politik, auch in der Demokratie, galt nicht das Prinzip der menschlichen Gleichheit, sondern deren Gegenteil: Das Prinzip, dass die Menschen ungleich sind.

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SWI: In Graubünden war man damals stolz auf die demokratische Regierungsform?

RH: Die meisten Bündner, ob nun die aristokratische Familie von Planta oder der ärmste Bauer aus der Surselva, kannten das Wort damals gar nicht. Im 16. und 17. Jahrhunderts haben nur Wenige in solchen Werten gedacht.

Die Bündner waren aber sicher stolz, dass sie “frei” waren. Frei bedeutete in der frühen Neuzeit privilegiert: Sie hatten bestimmte Privilegien und waren Herren über andere. Herr sein ist besser als Untertan sein. So viel wusste man.

SWI: Also feiern die Bündner Männer 2024 eigentlich 500 Jahre Freiheit?

RH: Formell war Graubünden Teil des Heiligen Römischen Reichs, aber davon war im täglichen Leben wenig zu spüren – sie waren zwar dem Kaiser untertan, aber es bedeutete wenig, weil sie sich eben als privilegiert betrachteten. Jeder hatte einen Herrn. Es kam darauf an, wer dieser Herr war und welche Freiheiten man besass.

Der Kaiser war theoretisch der Gesetzgeber und der höchste Richter in einem, aus der Logik der Sache, aus der Hierarchie der Ungleichheit. Alle frühneuzeitlichen europäischen Systeme kannten keine Gewaltenteilung. Der Kaiser hat durch die Vergabe von Privilegien diese Funktionen aber anderen verliehen. Mit dieser Hierarchie der Ungleichheit wurde in Graubünden damals demokratisch gespielt.

Graubünden feiert 2024 grosses Jubiläum. Im Bundesvertrag haben der Graue Bund, der Gotteshausbund und der Zehngerichtebund 1524 ihr Bündnis festgehalten und damit die Grundlage von Graubünden geschaffen.
Graubünden feiert 2024 grosses Jubiläum. Im Bundesvertrag haben der Graue Bund, der Gotteshausbund und der Zehngerichtebund 1524 ihr Bündnis festgehalten und damit die Grundlage von Graubünden geschaffen. GBL Gubler AG, Frauenfeld/Staatsarchiv Graubünden

SWI: Wie hat man die Ungleichheit politisch genutzt?

RH: Vor dem Dreissigjährigen Krieg wurde in Graubünden ein Traktat geschrieben, das argumentierte, weshalb Graubünden seine katholischen Untertanen im Veltlin zum Glaubenswechsel zwingen darf: 1. Graubünden ist demokratisch. 2. Die Mehrheit im demokratischen Graubünden ist protestantisch. 3. Es gilt das ius reformandi, das Recht, dass die Untertanen der Religion des Herren folgen müssen.

Daraus wurde im Traktat gefolgert, dass die Bündner das Recht hätten, die Veltliner – nötigenfalls mit Gewalt – zu bekehren. Das Argument war nur möglich, weil man demokratisch war, die Veltliner aber Untertanen. So hat man Demokratie benutzt, um Macht über Andere auszuüben.

SWI: Sie beschreiben in Ihrer Arbeit auch eine Rhetorik, die sehr populistisch ist. Die Eliten werden vom Volk unter Kontrolle gehalten.

RH: Das sieht man besonders in den sogenannten “Tumulten”. Mit einem “Fähnlilupf”, wo sich bewaffnete Millizen versammelten und dann ein “Strafgericht” einsetzten. Oft wurde in einem Streit zwischen den elitären Fraktionen das breitere Volk eingebracht.

Die Position des breiten Volks war aber meist: Ihr seid alle gleich schlecht. Im Protokoll einer Versammlung der Drei Bünde von 1576 heisst es, es sei mit “unseren grossen Hansen” – also den einflussreichen Familien – “vergebens und wirt nit besser”.

Darum beginne man einen Aufruhr und “haue allen die Köpfe ab”. Verschiedene “grossen Hansen” wurden im 16. Jahrhundert mehrmals vor Gericht gestellt, exiliert oder gar hingerichtet.

Die Idee, dass man sich selbst nicht zur Elite erheben, aber sie kontrollieren und disziplinieren will, ist ein roter Faden, der sich durch das frühneuzeitliche Graubünden zieht.

Das breite Volk wollte, dass die Staatsgeschäfte im Interesse der Gemeinschaft – modern ausgedrückt: in transparenter und fairer Weise – durchgeführt werden.

Das breite Volk verfolgte aber nicht das Ziel, die Staatsgeschäfte selbst zu führen. Diejenigen, die ihr täglich Brot nicht beim Schmieden oder als Bauern verdienen mussten, übernahmen die Regierungsgeschäfte – in Graubünden, und auch überall in der Schweizer Eidgenossenschaft.

Eine Figur, die das Chaos der Politik im frühen Graubünden vermitteln soll.
Satirische Darstellung der politischen Zustände im Freistaat der Drei Bünde. Gouache eines unbekannten Karikaturisten, um 1618 Rätisches Museum, Chur

SWI: An dieser frühen Demokratie irritiert mich auch das offene Abstimmen. Man hat nie geheim abgestimmt. Haben sie schlicht nicht an die Option einer geheimen Abstimmung gedacht?

RH: Sie haben selten daran gedacht. Das offene Abstimmen kommt davon, dass man das Stimmrecht nicht aus einer individuellen Freiheit erlangt, sondern weil man Mitglied einer Gemeinde ist. In dieser Logik war es so, dass alle Abstimmenden öffentlich zu ihrer Stimme stehen müssen.

Das Ziel war in erster Linie der Konsens: der Wille der Gemeinde als Ganzes. Die Teilung war immer ein Risiko. Man wählte nicht nur Vögte und Landammänner, formulierte nicht nur Gesetze und Kriegserklärungen, sondern bezeugte auch die Einheit.

Zynisch betrachtet, konnte man öffentliche Abstimmungen aber schon auch einfach viel besser kontrollieren. Es gab auch Druck, sich der Mehrheit anzuschliessen. Manchmal war dieser sehr gewaltsam, manchmal setzte man auf Bestechung.

SWI: Knappe Ergebnisse gab es nie?

RH: Nur sehr selten. Nach der Reformation konnten die Kirchgemeinden ihre Geistlichen selbst wählen oder auch absetzen. Es konnte de facto also jede Gemeinde für sich entscheiden, ob sie sich der Reformation anschliesst. Dazu gibt es ganz schöne Geschichten – wenn auch nicht immer ganz glaubwürdig.

Eine “Volksüberlieferung” wird etwa in Emil Camenischs “Bündner Reformationsgeschichte” von 1920 so beschrieben: Es gab damals ein Dorf, vielleicht Fellers, vielleicht Schleuis, in dem die Reformationswilligen und Katholiken exakt gleich viele waren. Dann hat eine Frau einen Knaben geboren. Damit hatten die Katholiken die Mehrheit erlangt.

SWI: Der Säugling durfte abstimmen?

RH: Nein, aber als männliches Kind zählte er als Teil der neuen Mehrheit. Es war eben eine frühneuzeitliche Demokratie.

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