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Der Fall Marthaler rüttelt die Theaterszene auf

Christoph Marthaler (links aussen) und seine Crew informieren am 6. Juni über den Spielplan 2002/03. Keystone

Zürich hat seinem international renommierten Schauspielhaus-Direktor Christoph Marthaler wegen rückläufiger Zuschauerzahlen den Laufpass gegeben.

Nach den unwirschen Reaktionen stellt sich die Frage, wie das Theater heute aussehen sollte.

Vor wenigen Tagen erst wurde das Zürcher Schauspielhaus bei einer internationalen Umfrage erneut zum deutschsprachigen “Theater des Jahres” gewählt. Vor wenigen Monaten bewilligten Zürichs Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mehr Geld für das Schauspielhaus. Und jetzt das.

Angesichts der stetig sinkenden Zuschauerzahlen sei klar geworden, dass Marthalers künstlerisches Konzept nicht weitergeführt werden könne, begründete der Verwaltungsrat des Theaters den Quasi-Rauswurf. Eigentlich war Marthalers Amtszeit auf fünf Jahre angelegt. Nun muss er schon nach nur drei Jahren zum Ende der Saison 2002/03 den Hut nehmen.

Schockierte Kulturszene

Unter der schockierten Kulturszene regt sich bereits Widerstand. “Die Entlassung von Christoph Marthaler ist eine Blamage für die Stadt und eine Katastrophe für die Kunst”, sagte Schriftsteller Adolf Muschg. “Ich halte den Vorgang für besonders hässlich, nachdem das Volk gerade für das Schauspielhaus und für Marthaler votiert hat.”

Ähnlich tönt es bei Otto Kukla, bis Sommer 2004 Co-Intendant am Zürcher Theater am Neumarkt: “Es ist höchst bedauerlich, dass aufregende und gute Theaternachbarn weggehen sollen. Für die Kunst ist das nicht schön, und für die Stadt ist es ein Verlust.”

Adolf Muschg und der Publizist Roger de Weck haben in Zürich Protest-Versammlungen organisiert. “Es wäre ein Armutszeugnis für die reiche Stadt, wenn sie sich einen Marthaler nicht leisten könnte”, hiess es in einem entsprechenden Aufruf.

Der deutsche Regisseur Falk Richter hat nach dem Rauswurf Marthalers die Schweizer Politik scharf kritisiert. “Natürlich wird Zensur in diesem Land immer über Geld ausgeübt, denn alles hier kann und darf nur über die finanzielle Seite, niemals inhaltlich abgewickelt werden”, sagte Richter in der “Berliner Zeitung”.

Schlechtes Signal für die Zukunft des Theaters

Die verschiedenen Ansprüche an das Theater – Publikumsnähe, Budget-Rahmen einhalten, künstlerische Kreativität – unter einen Hut zu bringen, ist schwierig. Das sagt Yvette Jaggi, Präsidentin der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die als ehemalige Stadtpräsidentin und “Kulturministerin” der Stadt Lausanne von 1990 bis 1998 Erfahrungen in diesem Bereich sammeln konnte.

Yvette Jaggi investierte viel – auch Geld – in die Kultur. Mit Erfolg: Lausanne machte sich über die Schweizer Grenzen hinaus einen Namen als Kultur-Stadt. Mit Choreograf Maurice Béjart konnte die Stadtpräsidentin einen ganz grossen Fisch an Land ziehen.

Auf die Frage, ob man in der Romandie toleranter gegenüber moderner Kultur sei, sagt Yvette Jaggi gegenüber swissinfo, man habe einfach versucht, “aus der damaligen Zeit eine andere Zeit zu machen”. Sie habe aber vor allem versucht, Kultur auf einer breiten Basis zu machen.

Das Geld sei nicht einfach geflossen, sagt sie, aber man habe das Lausanner Stadtparlament für diese Kulturpolitik gewinnen können, weil Regierung und Stadtpräsidium positive Signale in diese Richtung gegeben hätten.

Ein bisschen Mut

“Und das ist das Gravierende am Beschluss des Verwaltungsrates des Zürcher Schauspielhauses, dass er mit dem Fall Marthaler ein ganz schlechtes Signal für die Theaterzukunft gibt.” Man erhalte jetzt ein bisschen den Eindruck, Zürich verzichte auf seinen Anspruch, nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Kulturmetropole zu sein.

“Für das Image der Stadt ist das unheimlich schädlich”, so Yvette Jaggi. Deshalb findet sie die harschen Reaktionen der Kulturszene “kerngesund”.

Die Zürcher Bevölkerung habe mit ihrem Votum für mehr Schauspielhaus-Gelder eigentlich ein klares Signal gesetzt. Auch wenn von SVP-Seite politischer Druck auf die Stadtregierung gemacht worden sei, auch wenn die Zuschauerzahlen zurückgegangen seien, könne man dennoch modernes, fortschrittliches Theater bieten, meint Yvette Jaggi. “Davon bin ich überzeugt.” Es brauche seitens der Regierung halt auch in bisschen Mut dazu.

Artistische und administrative Verantwortung

Der Westschweizer Regisseur und Direktor des Théatre de Carouge, François Rochaix, ist sich bewusst, dass man heute als Theater-Direktor nicht nur artistische, sondern auch administrative Verantwortung hat. Dennoch findet er es falsch, Marthaler wegen des angeblichen kommerziellen Misserfolges vorzeitig wegzuschicken.

“Man hätte ihm mehr Zeit geben müssen, um mit seinem Qualitätstheater den Kontakt zum Publikum zu finden”, sagt Rochaix gegenüber swissinfo. Christoph Marthaler sei ein moderner, provokativer Regisseur, die Zürcher Behörden hätten auf einen Zuschauerrückgang gefasst sein müssen.

Dialog statt Konflikt

In der Romandie seien in den Siebzigerjahren die politischen Debatten ums Theater viel direkter und aggressiver gewesen. Man habe gesellschaftliche Probleme auf extreme Weise dargestellt. Politisch sei heute nichts mehr so klar, das Links-Rechts-Schema sei vorbei, sagt Rochaix.

Heute seien die Geldprobleme des Theaters wichtiger. Leider würde man vielerorts dazu neigen, den Erfolg einer Bühne in Zuschauerzahlen zu messen, also wie in der Privatwirtschaft. “Das ist eine Falle.”

Rochaix hat sich nach seinen vielen Theater-Erfahrungen, auch im Ausland, dem Dialog anstelle des Konfliktes verschrieben. Damit habe er in Genf gute Erfahrungen gemacht, die Stadt habe sich geöffnet, das sei hoffnungsvoll für die Zukunft. “Aber Dialog bedeutet nicht, dass man darauf verzichtet, ein provokatives Stück zu produzieren.”

Jean-Michel Berthoud

Christoph Marthaler muss auf Ende Spielzeit 2002/03 gehen
Zuschauerzahlen in der 2. Marthaler-Saison von vorher 170’000 auf 120’000 gesunken
Per Saldo ein nochmaliger Rückgang der Abonnentenzahl

Am renommierten Zürcher Schauspielhaus geht die Ära Christoph Marthaler vorzeitig nach drei Spielzeiten zu Ende.

Die Kulturszene hat unwirsch bis geschockt reagiert. Es wäre ein Armutszeugnis für die reiche Stadt Zürich, wenn sie sich einen Marthaler nicht leisten könnte, sagte Schriftsteller Adolf Muschg.

Nach dem Fall Marthaler stellt sich generell die Frage, wie das Theater heute unter finanziellem und politischem Druck reagieren muss.

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